Eine Rezension von Helmut Hirsch


Immer wieder eine Entdeckung: Kindheit

Hans-Ulrich Treichel: Der Verlorene

Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1998, 175 S.

 

Kindheit vergeht nicht nur schnell, sie wird auch schnell wieder vergessen. Von den meisten jedenfalls. Die kleine Schar jener, die sich, gern oder weniger gern, ihrer Kindheit immer wieder erinnern, ebbt nicht ab. Denn Erzähler beginnen nie von heute auf morgen zu schreiben, sie tragen das, was sie einmal mitzuteilen haben, Jahre, Jahrzehnte mit sich herum. Je länger die Geschichten und Bilder, die Töne und Stimmen im Gedächtnis lagern, um so besser werden sie oft, wenn sie denn aufgeschrieben werden. Denn wie oft hört man von Freunden oder Bekannten Kindheitsgeschichten, ohne sie je zwischen zwei Buchdeckeln nachlesen zu können.

Hans-Ulrich Treichel, Jahrgang 1952, hat bereits mehrere Bände Gedichte und Prosa veröffentlicht. Der Verlorene ist seine erste größere Erzählung, man kann das Buch auch einen kleinen Roman nennen. Denn in ihm lebt viel, ist alles, was zu einem Roman gehört. Zuerst ein paar Figuren, dazu Geschichten, in denen die Figuren gemeinsam und dabei ganz verschiedenartig vorkommen. Es beginnt in Ostpreußen, 1945, die Russen rücken vor, Kriegsszenerie und Flüchtlingstrecks. Im Strudel der wirren-wilden Ereignisse kommt ein Kind abhanden. Damals fast normal. Mit dem anderen Sohn, der hier erzählt, erreichen die Eltern eine Stadt im Westfälischen. Schnell werden Krieg, Flucht und Not vergessen. Aufbaujahre im neuen deutschen Westen geschildert. Der Vater zeigt Fleiß, kommt voran. Besitzt zuerst eine Leihbücherei, danach ein Lebensmittelgeschäft und steigert sich bis zum Großhandel für Fleisch- und Wurstwaren. Er liebt große, immer noch größere Autos, veranstaltet aufwendige Schweinehirnessen. Dem Sohn, der hier erzählt, steigt das Schweinehirn vom Magen in den Schlund zurück, so bekotzt er regelmäßig das elegante Innere der Autos des Vaters. Die Mutter hingegen übernimmt eine ganz andere Rolle. Daß sie auf der Flucht den anderen Sohn verloren hat, betrübt ihren Sinn. Sie lebt voller Vorwürfe, macht aus dem Trauma eine Art Lebensinhalt, der klagend zu Gehör gebracht wird. Und auch Arnold, der verlorene Sohn, kommt so als Figur schon früh in der Erzählung vor, als sei er ständig anwesend. Der Erzähler erfährt es von den Eltern: „Arnold ist nicht tot. Er ist auch nicht verhungert.“ Der Verlorene, der Abwesende wirkt wie eine feindselige Fuchtel über den Szenen dieser Familie. Ein Gefühl von Schuld und Scham begleitet deren Alltag, der Vater „büßt durch Arbeit“, die Mutter reibt sich damit auf, bei der Suche nach dem verlorenen Sohn nicht nachzulassen. Sie hat es sich in den Kopf gesetzt: Sie muß ihn finden. Während der jüngere Sohn in kleine Welten flüchtet, werden Suchmeldungen nach Arnold in die größere Welt gesendet. Der Erzähler träumt sich in Räume: Während das alte Posthaus entkernt wird, entdeckt er Vergangenes: „Das Haus war einmal mein Kindheitslabyrinth gewesen, mit langen Korridoren, tiefen Wandschränken und unerwarteten Treppenabsätzen, hinter den sich neue Korridore erstreckten, die wiederum zu anderen Verbindungstüren und Treppenabsätzen führten.“ Er durchstreift das Haus, unmittelbar und in der Erinnerung. Seine Entdeckungen behält er für sich, teilt sie nur dem Leser mit, der, so er ähnliche Entdeckungen gemacht hat, ihm nahekommt. Er wagt seinen Eltern nicht einmal zu erzählen, daß er „die Falltür geöffnet und hinuntergeschaut hatte“.

Dann geschieht etwas, das der Geschichte neue Nahrung gibt. In dem Findelkind 2307 glaubt die Mutter den verlorenen Sohn entdeckt zu haben. Was dann folgt, ist merkwürdig spannend und komisch. Um den Beweis des tatsächlich verlorenen und wiedergefundenen Sohnes zu erbringen, muß sich der Erzähler komplizierten Prozeduren unterziehen. Ein Heidelberger Professor erstellt ein „anthropologisch-erbbiologisches Abstammungsgutachten“, und das betrifft sogleich noch die ganze Familie. Das sind sehr beklemmende und dennoch komische Szenen. Voller Ernst und dennoch viel Groteske lebt da auf: Wie Mutter, Vater und Sohn im Institut ihren Auftritt haben. Gipsabgüsse von den Füßen werden genommen, die Schädelhöcker gemessen, unter schmerzhaften Schraubzwingen die „relative Kiefernwinkelbreite“ festgestellt. Die Komik dieser Situationen wird nie ganz ausgespielt, immer liegt ein dämpfender Schatten über allem, von dem der Erzähler selbst am meisten betroffen ist. Er schildert es so: „War ich, was mich betrifft, immer davon ausgegangen, daß ich es am schwersten hatte, so ging der Vater davon aus, daß ich es am einfachsten hatte. Ich hatte es aber nicht am einfachsten. Wenn es einer am einfachsten hatte, dann hatte es Arnold am einfachsten. Er brauchte nicht aufzuräumen, er brauchte kein gescheites Kerlchen zu sein, und die Eltern sorgten sich trotzdem beständig um ihn.“

Der sarkastische und ironische Tonfall verrät Treichels Vorliebe für Thomas Bernhard. Geschwisterrivalität, Ehekrieg, Erwerbstrieb, Überlebenskampf, alles in einem und dicht beieinander. Auch Fleiß und Borniertheit der Nachkriegsjahre kommen durch den Erzähler reichlich zur Geltung. Denn seine Hauptfigur leidet, und das ergibt eine Geschichte voller Tiefen und Nuancen, eine Geschichte, in der auch noch im Unglück etwas vom erträumten Glück aufschimmert.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 6/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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