Eine Rezension von Heinrich Buchholzer

Ein Defizit an Differenzierung

Matthias Judt (Hrsg.): DDR-Geschichte in Dokumenten

Beschlüsse, Berichte, interne Materialien und Alltagszeugnisse.

Reihe „Forschungen zur DDR-Gesellschaft“.

Christoph Links Verlag, Berlin 1997, 638 S.

 

In seiner Reihe „Forschungen zur DDR-Gesellschaft“ hat der Christoph Links Verlag den Band DDR-Geschichte in Dokumenten präsentiert. Er ist von acht Autoren verfaßt, „die selbst in beiden deutschen Nachkriegsstaaten aufgewachsen sind“, wie es etwas ungelenk in den editorischen Hinweisen heißt. Unerfindlich, daß nur der aus der DDR stammende Herausgeber mit dreieinhalb Zeilen vorgestellt wird - Historiker, Jahrgang 1962, bereits durch Publikationen ausgewiesen. Auf die Einleitung „Deutschlands doppelte Vergangenheit: Die DDR in der deutschen Geschichte“ und die genannten Hinweise, die eigentlich ganz an den Anfang gehört hätten, folgen acht Kapitel: Partei, Staat und „Bündnispartner“; Wirtschaft; Gesellschaft (Klassen und Schichten); Bildung und Wissenschaft; Kultur und Medien; Kirchenpolitik; äußere und innere Sicherheit; Deutschland- und Außenpolitik.

Bemerkenswert ist das Herangehen an das Generalthema DDR-Geschichte, dessen Breite zweifellos nur mit einer Auswahl von Ausschnitten bedient werden konnte: Die einzelnen Kapitel umfassen als erstes eine informierend und analytisch angelegte Darstellung. Sie soll zur Entwicklung des jeweiligen Bereiches einen Überblick geben. Auf diesen Text folgen Dokumente (im Buch sind es insgesamt 471) von unterschiedlicher Länge und mit der Besonderheit, daß sowohl offizielle „Herrschaftsdokumente“ verschiedener Leitungsebenen als auch private Zeitzeugnisse vorgestellt werden. Dies sei, so der Herausgeber, ein „multiperspektivischer Zugang“. Jedenfalls ist es eine originelle, anderweitig noch nicht strapazierte Methode.

Ein Problem lag zweifellos in der Auswahl und Zusammenstellung dieser beiden Arten von Dokumenten. Der hohe Anspruch, es handele sich um einen „repräsentativen Querschnitt“, ist weder zu beweisen noch zu leugnen. Bei der Fülle des inzwischen verfügbaren Materials konnte die Auswahl durchaus eine Selektion nach Gutdünken werden.

Die Fleißarbeit jedenfalls hat sich gelohnt: Aus dem Archiv Parteien und Massenorganisationen der DDR, der in Berlin-Lichterfelde unter Obhut des Bundesarchivs angesiedelten Stiftung, sind interessante und bisher noch nicht veröffentlichte Dokumente herausgefischt worden. Alltagszeugnisse, in denen DDR-Bürger aus simplen, nachvollziehbaren Gründen, etwa soziologischer oder sozial- und bildungspolitischer Art, eine Affinität zu diesem Stück Deutschland erkennen lassen, in das sie ihre Lebensarbeit investiert hatten - solche Zeugnisse enthält das Buch nicht.

Dieses spezielle Defizit an Differenzierung spricht durchaus für „die generellen Schwierigkeiten der Deutschen im Umgang mit ihrer jüngsten Geschichte“, wie Matthias Judt einleitend feststellt. Die retrospektive Analyse der DDR-Geschichte habe „im Ergebnis zur notwendigen Revision früherer, von Illusionen um die vermeintliche Stabilität der DDR geprägten Darstellungen geführt“. Man habe es mangels exakter Unterlagen nicht besser gewußt. Abgesehen von der naheliegenden Frage, wofür denn die vielen „DDRologen“ und die Geheimdienste der Bundesrepublik samt ihren Zuträgern eigentlich bezahlt wurden - wenn jetzt richtigerweise die (auch) im Westen verbreitete Illusion einer stabilen DDR revidiert wird, sollte dies doch keineswegs zum anderen Extrem führen, zum Bild eines durch und durch maroden, verabscheuungswürdigen Staates. Von dieses Gedankens Blässe ist das Buch nicht frei.

Einige Schwierigkeit beim Umgang mit der Wahrheit, die bekanntlich weder schwarz noch weiß ist, hat sich aus der Konzeption des Werkes ergeben: Die Übersichten zum jeweiligen Thema sind verknappte, oft beinahe thesenartige Darstellungen, kurze Exkursionen in eine lange und vielgestaltige Wirklichkeit. So liest man denn beispielsweise im von Judt betreuten wirtschaftspolitischen Teil durchaus Schlüssiges zu den Faktoren, die das Entstehen der Planwirtschaft bewirkt haben. Ebenso aber findet man die fragwürdige Behauptung, die DDR-Führung habe „ausschließlich nach eigenem Ermessen“ entscheiden können, „inwieweit die Wirtschaft des Landes dem Druck internationaler Märkte ausgesetzt werden sollte“. Eine illusionäre Art von Autarkie! Gäbe es sie, wäre sie allen notleidenden Volkswirtschaften zu empfehlen.

Oder es wird, um ein weiteres Beispiel für die Tücken der Verknappung von Aussagen zu nennen, das Festhalten an einer überholten Preis- und Subventionspolitik mit einem einzigen Satz zu erklären versucht: „Die Notsituation, die viele Mitglieder der SED-Führung in den zwanziger Jahren miterlebt hatten, erzeugte eine Selbstblockade in der Preispolitik, die es ihnen erschwerte, Preisveränderungen als notwendig zu akzeptieren sowie rechtzeitig durchzuführen.“ Befohlen wurde die Blockade tatsächlich von Honecker, aber auch dies ist nur ein verkürzter Teil der historischen Wahrheit. Der Autor war offenbar nicht davor gewarnt, einen so komplexen innen- und wirtschaftspolitischen Vorgang wie die Gestaltung der Preise im Einzelhandel sowie für Dienstleistungen und Mieten (die Industrie- und Agrarpreise sind zwei ganz andere Felder, übrigens auch in der heutigen Bundesrepublik) unzulässig zu vereinfachen.

Eindeutig zu dünn geraten ist im Kapitel „Herrschaftsmechanismen“ (Partei und Staat) von Ralph Jessen der Abschnitt zu Justiz und Verwaltung. Beispielsweise vermißt man sowohl ein Wort zur Strafrechts-Gesetzgebung, die zu einer unvertretbaren Verschärfung des politischen Strafrechts führte, als auch zumindest einen Hinweis auf das bemerkenswert moderne und verständliche Zivilgesetzbuch von 1975. Auch so wäre der „conditio sine qua non“ jeder Geschichtsbetrachtung, dem differenzierten Herangehen, entsprochen worden.

Mangel an Substanz ist auch im Kapitel „Kultur und Medien“ von Andreas Trampe festzustellen, in dem die Kultur überrepräsentiert erscheint. „Medialer Alltag“ war eben nicht nur der „Schwarze Kanal“ (mit seiner niedrigen Einschaltquote, sei ergänzend vermerkt), sondern auch das Eingehen der Medien auf Alltagsbedürfnisse der Rezipienten ebenso wie das Anbieten von Hintergrundinformationen, die - bei allem, was zu wünschen blieb - beispielsweise im Rundfunk, in „Horizont“ und „Berliner Zeitung“ zu finden waren. Dahingestellt sei, ob das Vertriebsverbot der sowjetischen Monatszeitschaft „Sputnik“ dem Politbüro „die umfangreichste Protestaktion vor der Wende“ bescherte, oder ob es nicht der Kaffee „Mix“ war, ein verschnittener Bohnenkaffee, der ebenso stillschweigend wie blamabel aus den Regalen genommen werden mußte, nachdem sich Stadt und Land darüber bissig aufgeregt hatten.

Der Wunsch des Herausgebers, die Publikation möge den Lesern viel Nutzen bringen, wird mit weiten Teilen der Dokumentation erfüllt. Hierzu trägt auch das Kapitel von Helmut Müller-Enbergs aus dem Hause Gauck über innere und äußere Sicherheit bei; es zeichnet sich durch Sachkunde und Sachlichkeit aus. Lesenswert sind viele - oft erst auf den zweiten Blick erschütternde - persönliche Zeugnisse wie die Selbstbezichtigung von Arne Benary vom Dezember 1959, der ins Berliner Kabelwerk Oberspree verbannt worden war und 1971 den Freitod wählte. Ebenso lesenswert sind Äußerungen wie die von Günter Schabowski in der Politbürositzung vom 29. August 1989 zur Massenflucht von DDR-Bürgern nach Ungarn, Äußerungen, aus denen die Konzeptions- und Hilflosigkeit der Parteiführung spricht.

Wertvoll sind nicht zuletzt die umfangreichen Handreichungen, die den Leser anregen und weiterführen können: Chronik der DDR-Geschichte (19 Seiten), Abkürzungsverzeichnis, Literaturverzeichnis (20 Seiten), annotiertes Personenregister (19 Seiten) sowie Schlagwort- und Ortsregister, sämtlich sorgfältig betreut. Auf die richtige Schreibweise der 1. (nicht Ersten) Sekretäre der SED-Bezirksleitungen hätte man achten können. Das Personenregister ist übrigens eine Fundgrube für Nachdenkliche. So stellt man unter Hörnig, Johannes, fest, daß er von 1955 bis 1989 Abteilungsleiter Wissenschaft des ZK war, also rund dreieinhalb Jahrzehnte. Welch schönes Beispiel für jene Kontinuität der Amtsführung, die vom Politbüro vorgelebt wurde!

Man kann gegen einige Texte und agitatorisch wirkende Formulierungen seine Einwände haben - insgesamt ist das Buch eine umfangreiche und ernstzunehmende Einladung, über die Geschichte der DDR nachzulesen und sich selbst eine Meinung zu bilden oder die vorhandene zu prüfen.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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