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bel in Berlin einzog, formierte sich rasch eine Prozession, der der Rat von Berlin mit den höchsten Würdenträgern voranschritt. Unter Glockengeläut näherten sich Tetzel, der auf einem Samtkissen die päpstliche Ablaßbulle vor sich hertragen ließ, und sein großer Anhang der Nikolaikirche. Dort angekommen, richtete der Ablaßhändler vor dem Altar ein rotes Kreuz mit dem päpstlichen Wappen Leos X. (Giovanni de Medici, 1513–1521) auf und stellte einen Ablaßkasten daneben, in welchen die Sündigen ihre Groschen werfen konnten. Dann begann der Wortgewaltige zu predigen und atemlos lauschte die Menge. »Hört Ihr nicht Eurer Eltern und anderer Verstorbenen Stimme, die mit Klagen und Jammergeschrei Euch zurufen: Erbarmt Euch mein! Erbarmt Euch mein! ... Kommt herbei, hier könnt Ihr den vollständigen Ablaß erhalten! – Jetzt steht noch der Himmel offen! Sehet doch wie viel Seelen Ihr erretten könnt! Aber, o Ihr harten und nachlässigen Seelen! – Du dort kannst Deinen Vater für 12 Groschen aus dem Fegefeuer herausziehen, und Du bist so undankbar und willst Deinem Vater in so großer Pein, die er leiden muß, nicht zu Hilfe kommen? Ich will am jüngsten Gericht entschuldigt sein, Ihr aber mögt zusehen, wie Ihr auskommt! Legt ein, legt ein, legt ein!«2)
     Inwieweit diese Darstellung des Berliner Schriftstellers und Historikers Adolf Streckfuß (1823–1895), Verfasser des Werkes »500 Jahre Berliner Geschichte. Vom Fi-
Herbert Schwenk
Atemlos lauschte die Menge

Johann Tetzel – ein Kapitel »Weltgeschichte auf berlinisch«

Es soll sich im April 1517 zugetragen haben. Berlin und Cölln waren festlich geschmückt und eine schaulustige Menge fieberte dem großen Ereignis entgegen. Endlich war es soweit. Boten meldeten, daß der heilige Mann nahe, dem die gespannte Erwartung galt: der berühmte Leipziger Dominikanermönch und Ablaßhändler Johann Tetzel, dem der Ruf eines Predigers von außerordentlicher Wirkung vorausgeeilt war. Er könne, so hieß es, die Menschen von ihren Sünden befreien, wenn man bei ihm einen Sündenerlaß in Gestalt eines Ablaßbriefes kaufe, je nach Schwere begangener Sünden für unterschiedliche Geldbeträge.1) Immerhin hatte 1516, wie schon 1502, die Pest in der Mark und in beiden Spreestädten furchtbar gewütet – was als Strafe Gottes für die vielen Sünden der Berliner angesehen wurde. Sogar alle Totengräber seien damals dahingerafft worden. Und nun schickten Gott und der Papst den Prediger Tetzel, um die Sündigen ihrer Seelenqualen zu erleichtern! Als Johann Tetzel endlich unter großem Ju-

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   5   Probleme/Projekte/Prozesse Ablaßhändler Johann Tetzel  Vorige SeiteNächste Seite
scherdorf zur Weltstadt«, den Realitäten entspricht, muß dahingestellt bleiben. »Ausführliches über den Aufenthalt Tetzels in Berlin ist ... nicht vorhanden«3), heißt es bei Louis Schneider schon 1873. Und 1937 bekräftigen M. Arendt/E. Faden/O. F. Gandert: Was Tetzel in Berlin »in den sechs Monaten seines Aufenthalts mit seinem Schacher ausgerichtet hat, davon ist nichts überliefert«.4) Wahrscheinlich hat Streckfuß kurzerhand die Angaben, die der Chronist Godofredus Hechtius in seiner Vita Tetzelii machte, phantasievoll auf Berlin übertragen: »Der Ablaß-Commissarius ließ die Päbstliche Gnaden-Bulle auf einem Sammet- oder goldenen Tuch vor sich hertragen, und ward von seinen Empfängern bis in eine Kirche begleitet, woselbst gleichfalls alle Orgeln und Instrumente erschallten. Wenn sie nun in solche Kirche gekommen waren, richtete der Ablaß-Krähmer mitten in derselben ein rothes hölzernes Kreuz auff, daran er des romischen Pabstes sein Wappen hing und nun unter starkem Zulauff des Volkes seine Predigt begann. Neben das Kreuz wurde der schwere Geldkasten und auf diesen ein Becken mit den schon fertigen Ablaßbriefen gesetzt.«5)
     Der Zeitpunkt des Auftritts Tetzels in Berlin ist nicht genau datiert. Während Adolf Streckfuß den Berliner Aufenthalt mit »Frühjahr 1517« angibt, wird das Ereignis in anderen Werken vorsichtshalber nur auf »1517« festgesetzt. Sehr wahrscheinlich ist, daß sich der Ablaßhändler von Frühjahr bis
Herbst 1517 in der Mark aufhielt und Berlin mehrmals besuchte. Die Datierung »April 1514« ist offensichtlich ein Druckfehler.6) Einziger urkundlich gesicherter Anhaltspunkt ist ein in Berlin, »den 5. Octobris Anno 1517«, vermutlich im Grauen Kloster ausgestellter Ablaßbrief, den der Strausberger Theologe und Historiograph Andreas Angelus (eigentlich Engel, 1561–1598) in seinen »Annales Marchiae Brandenburgicae« mitteilt. Darin wird dem Schlächter Tilemann aus Köpenick Absolution erteilt, der versehentlich, statt eines Schweines, seinen kleinen Sohn erschlagen hatte: »Du hast uns berichtet, als woltestu nach deiner Saw (Sau) schlagen, so ist dir dein junge, welchen du nicht gesehen, unversehens im schlage kommen und hast denselben wider dein willen getroffen und todt geschlagen: Welches dir von Hertzen leid ist ... Sprechen dich hiermit davon ganz los, und befehlen daneben allen und jeden, welchen dieser Brieff zu lesen für kömpt, das sie demselben glauben geben, und niemandt mehr jemals dich darumb ansprechen oder beschuldigen sollen, wo ferne sie nicht in unserer straff und urtheil kommen wollen.«7)
     Es wird angenommen, daß Tetzel neben der Nikolaikirche auch die Franziskaner- Klosterkirche besucht hat, wo er vor dem Portal ebenfalls ein hohes Kreuz errichtete, an dem der rote Wappenschild des Papstes Leo X. mit den goldenen Kugeln des Geschlechtes der Medici samt der Tiara und
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   6   Probleme/Projekte/Prozesse Ablaßhändler Johann Tetzel  Vorige SeiteNächste Seite
den Schlüsseln Petris hing.8) Wie viele Ablaßbriefe Tetzel in Berlin vertrieben und welche Summen er dabei kassiert hat – auch darüber findet sich in den Quellen kein Anhalt. Ablässe gehörten um 1517 auch zum Berliner Alltag, etwa wenn der Erzbischof von Magdeburg am 27. Oktober 1517 allen Ablaß verhieß, welche die Kapelle bei der Petrikirche in Cölln »beschenken oder an gewissen Heiligtagen besuchen würden«.9) Der offizielle Preis für einen gedruckten Ablaßbrief betrug einen Rheinischen Viertelgulden, je nach »örtlicher Marktlage« war Tetzel jedoch auch bereit, die Preise zu senken. Geht man davon aus, daß Tetzels Tätigkeit mit einem Monatssold von 100 Gulden, freier Kost sowie »Beigabe« dreier Berittener als Begleitschutz vergütet wurde, so muß er schon einen hohen »Umsatz« gemacht haben, um sein Geschäft rentabel zu betreiben.10) So habe Tetzel nächst Magdeburg in Berlin und Frankfurt an der Oder »die besten Geschäfte und großes Aufsehen gemacht und er muß jedenfalls ein ebenso talentvoller, als frecher Mensch gewesen sein; das erkennt sich wenigstens aus allen über ihn vorhandenen Nachrichten«.11)
     Dem Auftreten Johann Tetzels in der Mark Brandenburg und Berlin kommt eminent große politische Bedeutung zu. Es dürfte den letzten Anstoß zur Reformation Martin Luthers (1483–1546) gegeben haben. Inzwischen ist als Faktum weithin anerkannt, wenn auch keineswegs von Zeitzeugen be-
kundet, daß der Augustinermönch und Professor der Heiligen Schrift Dr. Martin Luther am Tag oder Abend vor Allerheiligen (1. November) 1517 seine 95 lateinische Thesen über den Ablaß und das Wesen der wahren Buße an die Tür der Wittenberger Schloßkirche geheftet hat. Sein Ziel war es, damit zu einer Disputation (lat. disputatio »Erörterung, Abhandlung«) über die Mißbräuche beim kirchlichen Ablaßhandel herauszufordern. Besonders Tetzels Ablaßpraktiken hatten Luther stark bewegt und empört. Bereits in der ersten These brachte er sein Hauptanliegen zum Ausdruck, »daß das ganze Leben der Gläubigen Buße sein soll« und ein Freikauf von den Sünden keineswegs christlich sei. Geradezu ketzerisch mutet seine These 52 an: »Eitel und nichtig ist das Vertrauen, durch Ablaßbriefe das Heil zu erlangen, auch wenn der Kommissar, ja der Papst selbst seine eigene Seele zum Pfand dafür gäbe.«12) Luthers Thesenanschlag löste nicht nur einen erbitterten Streit um theologische und kirchenrechtliche Grundfragen aus, sondern wurde in Verbindung mit den damaligen politischen, ökonomischen und sozialen Problemen zur Initialzündung der frühbürgerlichen Revolution in Deutschland.
     Zu den eifrigsten Parteigängern der Papstkirche im damaligen Römischen Reich gehörte das Haus des brandenburgischen Kurfürsten Joachim I. Nestor (1484–1535, Kurfürst seit 1499). Joachims Bruder Albrecht von Brandenburg (1490–1545) wurde 1513 –
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erst 23jährig – Bistumsadministrator von Halberstadt und Erzbischof von Magdeburg und erhielt zudem 1514 die Würde des Mainzer Erzbischofs; 1518 wurde er Kardinal. Die päpstliche Zustimmung zu einer solchen Ämterhäufung konnte nur mit hohen Geldsummen erkauft werden. Die erforderlichen 14 000 Gulden13) für die Wahl eines Erzbischofs plus weitere 10 000 Gulden für die Wahl als Erzbischof von Mainz (laut Angelus insgesamt »inn die dreyssig tausend gülden«) wurden beim Augsburger Bankhaus Fugger beschafft. Zur Schuldentilgung wurde Erzbischof Albrecht am sogenannten Petersablaß beteiligt, einem schon 1506 von Papst Julius II. (1503–1513) ausgeschriebenen Ablaßgeschäft zur Finanzierung des Neubaus von Sankt Peter in Rom. Insgesamt waren von 1500 bis 1517 fünf Ablässe in Deutschland ausgeschrieben worden, darunter jener von 1515, in dem der prachtliebende Papst Leo X. (seit 1513 Nachfolger Julius' II.),

Johann Tetzel auf dem Esel, Einblattholzschnitt aus dem 16. Jh.

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hochgebildeter Freund des Erasmus von Rotterdam (1466–1536), eine besondere Bulle zum Ablaßhandel in den Kirchenprovinzen Mainz und Magdeburg sowie der Mark Brandenburg erlassen hatte. Erzbischof Albrecht erhielt eine auf acht Jahre laufende Ablaßberechtigung, wonach die Hälfte der Einnahmen aus dem Ablaßhandel zur Schuldentilgung verwendet werden durfte und die andere Hälfte an den Papst direkt abzuführen war. Den Deal in Rom vermittelte der Prälat Dr. Johannes Blankenfelde (1471–1533), Sohn des früheren Berliner Bürgermeisters und Kaufherrn Thomas Blankenfelde (1436–1504) und Vorsteher des deutschen Hauses bei der römischen Kurie. Nun war ein geschickter wortgewaltiger »Sub-Commissarius des Ablasses« gefragt – die Stunde Johann Tetzels war gekommen.
     Johann Tetzel (oder Hans bzw. Johannes Tezelius, ursprünglich Diez oder Diezel), konnte bereits auf ein bewegtes Leben zurückblicken, als er 1517 in der Mark und in Berlin weilte. Schon Andreas Angelus gibt im Abschnitt »Historia von Tetzel und dessen Ablaßkrämerei« in den »Annales Marchiae Brandenburgicae« wesentliche Hinweise auf Tetzels Biografie.14) Otto von Corvin (1812–1886) kennzeichnet Tetzel in seinem 1845 erschienenen »Pfaffenspiegel« als »das wahre Ideal eines Pfaffen« und belegt ihn mit wenig schmeichelhaften Worten wie »unverschämter, feister Schlingel«, »Spitzbube« und »nichtswürdiger Mönch«.15) Um 1465
in Pirna als Sohn eines Goldschmiedes geboren, war Tetzel nach kurzem Studium der Theologie in Leipzig (1482/83) als Mönch in das Leipziger Dominikanerkloster eingetreten (1489). Er zeigte Talent zum Predigen und erhielt eine Stelle als Geistlicher in Zwickau. Von 1504 bis 1510 war er im Auftrag des Deutschen Ordens als Ablaßprediger in einigen deutschen Ländern und Diözesen tätig: in Livland (1504), Sachsen und Schlesien (1505–1507, wo er den ihm zugesprochenen Slogan »Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt« geprägt haben soll, sowie am Niederrhein und in Süddeutschland (1507–1510). Allein in Freiburg soll er in zwei Tagen nicht weniger als 2 000 Gulden eingenommen haben. 1509 wurde er Inquisitor für Sachsen und Polen. Den Gipfel seiner Ablaßkarriere erreichte Tetzel 1516/17, als er in Erfüllung des Ablaßgeschäftes zum Bau des Petersdomes von Albrecht von Mainz zum Ablaß-General- Bevollmächtigten mit dem Titel eines commissarii apostolici et haereticae pravitatis Inquisitoris specialis unter dem päpstlichen Nuntius Johann Angelus Arcimboldus in den Stiften Halberstadt und Magdeburg bestallt wurde. Dabei erhielt er auch, als er sich im erzbischöflich- magdeburgischen Jüterbog aufhielt, Zulauf sächsischer Pilger aus dem etwa 40 Kilometer entfernten Wittenberg, wodurch Luther von Tetzels marktschreierischen Methoden und frivolem Gebaren nähere Kenntnis erhielt. Und in diese
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   9   Probleme/Projekte/Prozesse Ablaßhändler Johann Tetzel  Vorige SeiteNächste Seite
Zeit fällt Tetzels Aufenthalt in Berlin. Wenn auch nicht erwiesen, so ist doch bezeichnend für Tetzels Lebenswandel ein ihm schon von Angelus nachgesagter Hergang, als der »lose Bösewicht und Ehebrecher« in Innsbruck zum Tode durch Ertränken verurteilt und nur dank der Fürsprache Kurfürst Friedrichs III. (der Weise) von Sachsen (1463–1525, Kurfürst seit 1486), Begründer der Universität Wittenberg (1502) und Förderer der Reformation, freigelassen worden sei.
     Was aber geschah nach Tetzels Aufenthalt in Berlin? Auch darüber gibt es mehr Anekdoten denn historisch Belegtes. So wurde eine einst verbreitete Erzählung, wonach ein Edelmann (angeblich Hans von Hacke auf Stülpe bei Jüterbog) von Tetzel einen Ablaßbrief für eine künftige Sünde löste, um ihn dann bei Jüterbog seines Ablaßkastens zu berauben, schon vor über 100 Jahren als »eine entschieden unhistorische Sage«16) qualifiziert und wird heute zurecht unter den »Berliner Sagen«17) geführt. Belegt ist hingegen, daß sich Tetzel im Dezember 1517, also mehrere Wochen nach Luthers Thesenanschlag wider den Ablaßhandel, nach Frankfurt an der Oder begab. Nachdem sich Luthers ins Deutsche übersetzte Thesen rasch in ganz Deutschland verbreitet und eine Wirkung erzielt hatten, die selbst der Reformator nicht erwartet hatte, holten seine Widersacher zum Gegenschlag aus. Schauplatz des Geschehens wurde die Uni-
versität Frankfurt, die 1506 von den Gebrüdern Joachim I. und Albrecht mit päpstlicher Bewilligung gestiftet worden war und sich unter ihrem ersten Rektor, dem Leipziger Dominikaner und Professor der Theologie, Conrad Wimpina von Buchen (Geburtsname Koch, um 1465–1531), zu einem Hort der Scholastik entwickelt und nach Luthers Thesenverkündung zu einer Stätte erbitterter Auseinandersetzung mit dem großen Reformator entwickelt hatte. Der gelehrte Professor Wimpina soll nun seinerseits 106 (einige Quellen nennen 122) Antithesen entworfen haben, »welche Tetzel vor einer großen Versammlung von Geistlichen und Mönchen am 20. Januar 1518 verteidigen sollte«.18) Tetzel sei 1518 in Frankfurt an der Oder – vom Papst wegen seiner »Verdienste« protegiert – zum Doktor der Theologie promoviert worden, jedoch anschließend, zum »Sündenbock« für die Reformation abgestempelt, nach Leipzig in das Dominikanerkloster zurückgekehrt, wo er am 11. August 1519 verstorben sei. Zuvor war es in der Leipziger Pleißenburg noch einmal Ende Juni, Anfang Juli 1519 zu einer Disputation in Gegenwart des Herzogs Georg (der Bärtige) zu Sachsen (1500–1539, geb. 1471), einem Gegner der Reformation, gekommen. Eine Version über den Tod Johann Tetzels besagt übrigens, daß jener bereits am 4. Juli 1519 inmitten eines Wortgefechts gestorben sei.19) An diesem Tag, so heißt es, habe Martin Luther in den Redekampf eingegriffen – und
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   10   Probleme/Projekte/Prozesse Ablaßhändler Johann Tetzel  Vorige SeiteNächste Seite
dessen pathologisch bedingte »ausgesprochene Intoleranz gegen Andersdenkende«, »Aggressivität und grobianistische Ausfälle«20) müssen Tetzel schwer zugesetzt haben ...
     Die Reformation indes nahm unaufhaltsam ihren Lauf. Nach dem Tode Joachims I. Nestor am 11. Juli 1535 in Stendal übernahm sein Sohn Joachim II. Hektor (1505–1571, Kurfürst seit 1535) die Regierung in der Kurmark Brandenburg und vollzog nach entsprechendem Rat Philipp Melanchthons (1497–1560), des Vertrauten Luthers, sowie auf Drängen der Stände am 1. November 1539 seinen Übertritt zum evangelischen Glauben, dem einen Tag später der Rat und die Bürgerschaft Berlins folgten – sinnigerweise an jenem Ort, wo Johann Tetzel 22 Jahre zuvor mit mächtiger Stimme den Ablaß gepredigt haben soll.
     Tetzel und die Reformation – auch das ist ein Kapitel »Weltgeschichte auf berlinisch«: »Ohne das brandenburgisch- hohenzollerische Ablaßgeschäft – und das ist nicht so hypothetisch – würde Julius II. (bzw. sein Nachfolger Leo X.) keine 10 000 Dukaten (vgl. Anmerkung 13) bekommen haben, würde es die Deckengemälde in der Sixtinischen Kapelle, auch das Grabdenkmal Julius II. nicht geben. Mit den 10 000 Dukaten wurden auch die nicht gerade bescheidenen Honoraransprüche Michelangelos (1475–1564) befriedigt.«21) Otto von Corvin erscheint sogar »die Berechnung viel zu ge-
ring, nach welcher innerhalb 600 Jahren aus der katholischen Christenheit nur (!) 1 019 690 000 Gulden nach Rom gezahlt wurden«.22)

Quellen:
1     Ablaß (oder Indulgenz) bedeutete in frühchristlicher Praxis Nachlaß zeitlicher Sündenstrafen durch persönliche Bußleistung. Im Mittelalter entwickelte sich daraus die Praxis, daß die Kirche als »Verwalterin des Gnadenschatzes« den Ablaß unter bestimmten Bedingungen, darunter kommerziellen, erteilte, sogar Verstorbenen. Luther lehnte derartiges Gebaren kategorisch ab.
2     Diese Darstellung folgt Adolf Streckfuß: 500 Jahre Berliner Geschichte. Vom Fischerdorf zur Weltstadt. Geschichte und Sage, vierte Auflage, erster Band, Berlin 1886, S. 68–73
3     Berlinische Nachrichten von L. Schneider, XVI. Jahrhundert, In: Schriften des Vereins für die Geschichte der Stadt Berlin, Heft VIII, Berlin 1873, S. 24
4     Max Arendt/ Eberhard Faden/ Otto-Friedrich Gandert: Geschichte der Stadt Berlin. Festschrift zur 700-Jahr-Feier der Reichshauptstadt, Berlin 1937, S. 128
5     Zit. nach Berlinische Nachrichten von L. Schneider, a. a. O., S. 23
6     Vgl. Knut Schulz: Vom Herrschaftsantritt der Hohenzollern bis zum Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges (1411/12–1618), In: Wolfgang Ribbe (Hrsg.): Geschichte Berlins, Erster Band, München 1987, S. 293

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   11   Probleme/Projekte/Prozesse Ablaßhändler Johann Tetzel  Vorige SeiteAnfang
7     Andreas Angelus (Engel): Annales Marchiae Brandenburgicae, Frankfurt an der Oder 1598, S. 287
8     Vgl. Oskar Schwebel: Geschichte der Stadt Berlin, Berlin 1888, S. 405
9     Urkundenbuch zur Berlinischen Chronik, hrsg. vom Verein für die Geschichte Berlins durch F. Voigt, Berlin 1869, S. 469
10     Vgl. Adolf Laube/Günter Vogler u. a.: Deutsche Geschichte, Band 3, Berlin 1983, S. 97
11     Berlinische Nachrichten von L. Schneider, a. a. O., S. 21
12     Zit. nach Siegfried Grisshammer: Die Entfaltung der Reformation in Deutschland, In: Heinrich Pleticha (Hrsg.): Deutsche Geschichte, Band 6, Gütersloh 1993, S. 25
13     Gulden (oder Gülden) waren ursprünglich als Goldmünzen eine im Mittelalter verbreitete Währungseinheit. Allmählich wurden sie jedoch durch Golddukaten ersetzt. Die hier genannten Rheinischen Guldenbeträge erscheinen gelegentlich auch in Dukatenwährung, z. B. bei Otto Hintze 20 000 und 10 000 Dukaten (Die Hohenzollern und ihr Werk, Berlin 1915, S. 118). – Die Angaben in Dukaten vor 1559 sind zu hinterfragen, weil erst die Reichsmünzordnung von 1559 den Dukaten als Reichsmünze aufgenommen hatte.
14     Vgl. A. Angelus (Engel): Annales Marchiae Brandenburgicae, a. a. O., S. 283–287. Die Daten zu Tetzels Biographie weichen in verschiedenen Quellen zum Teil voneinander ab. Vgl. z. B. Berlinische Nachrichten von L. Schneider, a. a. O., S. 21/22; Lexikon Biographien zur deutschen
Geschichte von Anfängen bis 1945, Hrsg.: Kurt Pätzold u. a., Berlin 1991, S. 505; Horst Rabe: Deutsche Geschichte 1500–1600. Das Jahrhundert der Glaubensspaltung, München 1991, S. 212/213
15     Vgl. Otto von Corvin: Pfaffenspiegel. Historische Denkmale des Fanatismus in der römisch-katholischen Kirche, 43. revidierte Original-Ausgabe (Rudolstädter Ausgabe), Berlin-Schöneberg (um 1934), S. 117–124
16     Vgl. Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins, Nr. 7/1888, S. 62/63
17     Vgl. Berliner Sagen, nacherzählt und kommentiert von Inge Kiessig, Berlin 1988, S. 51/52
18     Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins, Nr. 1/1895, S. 7
19     Vgl. Georg Webers Lehr- und Handbuch der Weltgeschichte, 21. Auflage, dritter Band, Leipzig 1911, S. 47
20     Vgl. Hans-Joachim Neumann: Weltgeschichte im Spiegel von Krankheiten, Quintessenz Verlag-GmbH, München 1991, S. 53 und 70
21     Hans Erman: Weltgeschichte auf berlinisch. Historien, Episoden, Anekdoten, Herrenalb/Schwarzwald 1960, S. 35
22     Otto von Corvin: Pfaffenspiegel, a. a. O., S. 126
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