Eine Annotation von Eberhard Fromm


Wallerstein, Immanuel: Die Sozialwissenschaft „kaputtdenken“
Die Grenzen der Paradigmen des 19. Jahrhunderts.

Beltz Athenäum Verlag, Weinheim 1995, 356 S.

 

Es gibt Buchtitel, die für sich sprechen. Und es gibt Titel, die erst einmal erklärt werden müssen. Zu letzteren zählt der vorliegende: Wallerstein nannte sein Buch Unthinking Social Science und bildete somit einen Neologismus. Der Herausgeber bot dem Autor dafür „zerdenken“ oder eben „kaputtdenken“ an, das den Beifall des Autors fand.

Der amerikanische Sozialwissenschaftler Immanuel Wallerstein (1930), dessen Biographie vom Herausgeber Hans-Heinrich Nolte im Anhang vorgestellt wird, verlangt nicht mehr und nicht weniger, als daß die Sozialwissenschaften des 19. Jahrhunderts „kaputtgedacht“ werden müßten, weil deren Positionen viel zu stark unsere heutigen Einstellungen beherrschten. Denn: „Diese Annahmen, die früher als Befreiung des Geistes angesehen wurden, sind heute das zentrale intellektuelle Hindernis für eine brauchbare Analyse der sozialen Welt.“ Recht bildhaft sieht der Autor das Anliegen seines Buches darin, aus einem sehr dichten Wald das den Durchblick versperrende Unterholz zu entfernen.

Wallersteins Überlegungen sind in Deutschland in einer Reihe Sammelbänden erschienen, worauf bibliographische Angaben im Anhang hinweisen. Von den größeren Arbeiten hat Der historische Kapitalismus (1984) einige Resonanz erlebt. In den meisten seiner Bücher und Artikel wirft der Autor provozierende Fragen auf und entwickelt Forderungen an die Wissenschaft, die ihm einerseits Anerkennung, aber auch viel Polemik eingebracht haben.

In der vorliegenden Sammlung begründet und entwickelt er in sechs Teilen sein Anliegen vom „Zerdenken“ der Sozialwissenschaften, wie sie heute existieren. Er beginnt mit seiner Interpretation der Sozialwissenschaften von ihren Anfängen bis zu ihren Verzweigungen, setzt sich dann mit dem Entwicklungsbegriff auseinander, befaßt sich mit den Konzepten von Zeit und Raum, stellt seine Ansichten zu Karl Marx (1818-1883) und Fernand Braudel (1902-1985) vor und geht abschließend auf die von ihm geforderte „Weltsystemanalyse“ ein.

In der Polemik mit den Sozialwissenschaften, wie sie im 19. Jahrhundert ausgeprägt worden sind, erhebt der Autor immer wieder die Forderung - wenn auch nur „symbolisch“ -, solche Disziplinen wie Ökonomie und Soziologie, Politologie und Geschichte, Anthropologie und Geographie abzuschaffen und zu einer einzigen Fachrichtung der „historischen“ Sozialwissenschaften zu vereinen. Er will damit einen „einzigen intellektuellen Schauplatz“ schaffen, auf dem eine holistische Untersuchung historischer Sozialsysteme möglich ist. Bisher, so behauptet er, wurden sehr verschiedene Staaten miteinander verglichen; jetzt sei es notwendig, historische Systeme zu vergleichen, insbesondere das der kapitalistischen Weltwirtschaft mit früheren Systemen.

Im Verständnis von Wallerstein handelt es sich bei der von ihm geforderten „Weltsystemanalyse“ weniger um eine soziale Theorie als um eine moralische und politische Protesthaltung. Sie will die wirklichen historischen Alternativen rational aufzeigen, die vor uns liegen. Wallerstein verneint die Existenz eines freien Willens innerhalb funktionierender historischer Systeme, meint dagegen, daß in End- oder Umbruchzeiten alles möglich und das Ergebnis des Handelns völlig unbestimmt sei. „Die Weltsystemanalyse fordert die Schaffung einer historischen Sozialwissenschaft, die sich in den Ungewißheiten eines Übergangs wohl fühlt und die zur Veränderung der Welt beiträgt, indem sie die anstehenden Entscheidungen aufzeigt, ohne sich auf die Krücke eines Glaubens an den unvermeidlichen Sieg des Guten zu stützen ... Die Weltsystemanalyse ist kein Paradigma der historischen Sozialwissenschaft. Sie ist der Ruf nach einer Debatte über das Paradigma.“

Nolte beklagt in seinen biographischen Anmerkungen zu Wallerstein, daß sich dessen Rezeption in Deutschland so zögerlich vollziehe, und sucht nach verschiedenen Erklärungen, wobei er einen gewichtigen Grund für den generellen deutschen Provinzialismus in der Abwesenheit der jüdischen Komponente im deutschen Geistesleben sieht.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11+12/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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