Eine Annotation von Wolfgang Buth


Fritz, Michael G.: Der Geruch des Westens

Pendo Verlag, München 1999, 126 S.

 

Auch zehn Jahre nach dem Mauerfall prägt die „geteilte“ Vergangenheit das Bewußtsein vieler Menschen. Michael G. Fritz versteht es meisterhaft, gesellschaftliche Zustände und die Befindlichkeit der Menschen einzufangen.

Fritz ist ein guter Beobachter; er kennt den Osten. 1953 in Berlin geboren, kannte er die Stadt vor und während der Mauer. Er studierte an der Bergakademie in Freiberg, wurde 1975 aus politischen Gründen exmatrikuliert, 1993 rehabilitiert. Nach seinem Abschluß als Hochschulingenieur lebt er heute als freier Schriftsteller in Dresden und Berlin. Er veröffentlichte u. a. Vor dem Winter, Erzählungen (1987), und Das Haus (1994) sowie zahlreiche Beiträge in Literaturzeitschriften und Anthologien. Auch in seinem neuesten Werk - Der Geruch des Westens - ist der Ausgangspunkt seiner Beobachtungen der östliche Teil Deutschlands: erst die DDR, dann die neuen Bundesländer. In Alltagssituationen spiegeln sich die politischen Zustände von fünf Jahrzehnten. Die Landschaften, vor allem die sächsische und die brandenburgische, ihre Schönheit und Zerstörung, führen immer wieder zurück in die Kindheit, in die Zeit, als der Westen unendlich fern und unerreichbar war und den Paketen, die von „drüben“ eintrafen, dieser besondere Geruch entströmte, „den ich nur den Geruch des Westens zu nennen vermochte. Es war ein an Parfüm erinnernder Duft, der sämtlichen Dingen in diesem Paket anhaftete und, indem er betörend in die Nase stieg, von der unendlichen Weite einer Welt kündete, die selbst außerhalb unserer Vorstellung lag. Das Zimmer blieb noch den Abend davon erfüllt, das Spielzeug trug diesen Geruch ein paar Tage, und die Bluse, die Jeans und die Hemden rochen danach bis zur ersten Wäsche. Meine Frau legte dann Seife, die wir Westseife nannten, weil sie auch in den Paketen gesteckt hatte, zwischen die Sachen in den Kleiderschrank, wodurch zwar eine Annäherung an diesen Geruch gelang, er aber nie wirklich erreicht wurde.“

Mit großer Präzision werden auch Erfahrungen in anderen Ländern beschrieben, so in Großbritannien („Englische Tage“), Lettland („Dichtertreffen in Riga“) und in Polen („Breslau im November“). Die Schilderungen bestechen nicht nur durch ihre poetische Dichte, sondern sie gewähren auch bewegende und erhellende Einblicke in gesellschaftliche Zustände von gestern und heute. Die kleinen Texte - Miniaturen über Landschaften, Naturereignisse, Pflanzen und Tiere sowie Menschen und ihre Stimmungen - haben eine starke Ausdruckskraft; sie spiegeln die Entwicklung poetisch wider. Der Leser ist von der Sprache nachhaltig berührt. Es ist ein Genuß, dieses Bändchen zu lesen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11+12/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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