Eine Rezension von Gisela Reller


Der Stille lauschen

Jeremej Aipin: Ich höre der Erde zu
Zwei Erzählungen.
Aus dem Russischen von Ina Schiemann und Lilli Schoppe.

WOSTOK Verlagsgesellschaft, Berlin 1997, 220 S.

 

Der Autor ist seiner Nationalität nach Chante. Etwa die Hälfte der 23 500 Chanten ist im Autonomen Kreis der Chanten und Mansen ansässig, die andere Hälfte im Gebiet Tomsk der Russischen Föderation. Die Chanten leben in der westsibirischen Taiga vorrangig von der Pelztierjagd, dem Fischfang und der Rentierzucht. Von Natur und Tier handelt dann auch die Titelerzählung Ich höre der Erde zu. Diese Erzählung, die keine ist, besteht aus vielen anrührenden kleinen Geschichten, erzählt von Erde und Sonne, die auch schlafen gehen, weshalb die Menschen abends besonders leise sein müssen, erzählt, wie man der Erde lauschen kann, von den Nestlingen der Bachstelze, von der Chanten Lieblingsvogel, der Krähe, von der bösen Lachmöwe, von der Roten Kleinen, das ein Rentier ohne Mutter ist. Die Chanten, bei denen man noch heute auf die weisen alten Männer hört, sind eins mit der Natur, ihre Sitten und Bräuche seit eh und je auf deren Erhalt gerichtet. Abends bleibt man noch „auf ein Märchen“ zusammen und ist sich einig darin, daß die Erde, die in der (finno-ugrischen) Chantensprache die „Sitzende“ heißt, und alles Natürliche, was sich auf ihr befindet, eine Seele hat, auch die Gräser und Bäume.

„Warten auf den ersten Schnee“, die zweite Erzählung, die eine ist, handelt von der Suche nach Erdöl, dem „brennbaren schwarzen Wasser“. Russische Erdölfachleute haben auf Chantengebiet eine neue Siedlung errichtet und einen riesigen Bohrturm mitten in die Taiga gestellt. Die Chanten sind dem Treiben der Russen gegenüber mißtrauisch. Nur einer, Mikul, reißt sich von den ausgetretenen Jagdpfaden seiner Landsleute los, geht zu den Bohrarbeitern und wird zweiter Helfer des Schichtführers. Es fällt ihm schwer, sich an das neue, stinkende, vom Lärm der Dieselmotoren geprägte Leben zu gewöhnen. Aber er bleibt - wozu die Liebe zu der auf dem Bohrturm tätigen russischen Laborantin Nadja das Ihre beiträgt.

Diese Erzählung erschien russisch 1990 - fünf Jahre nach Verkündigung von Perestroika und Glasnost. In Aipins Buch hat zu dieser Zeit nicht einmal der oberste Gott der Chanten, Num Torum, „etwas gegen die eiserne Arbeit, nichts gegen das schwarze brennbare Wasser. Und wenn er nichts dagegen hat, so ist doch alles in Ordnung“, schreibt der Autor. War 1990 wirklich alles in Ordnung?

Gerade in jenem Jahr hatte ich mit Wladimir Sangi, dem ersten Schriftsteller der auf Sachalin lebenden Niwchen, über die Probleme der russischen Nordvölker ein langes Gespräch geführt. Sangi war damals gerade zum Präsidenten des „Gesellschaftlichen Fonds der kleinen Völker des Nordens, Sibiriens und des Fernen Ostens“ gewählt worden. In unserem Gespräch war auch ausführlich von den Chanten die Rede. „Einst ihr Reich“, sagte er, „ist es heute ihr Armenhaus. Chanten, Mansen und Nenzen führen ein Leben im Schatten der Öl- und Erdgasindustrie Westsibiriens: zum großen Teil arbeits- und obdachlos, dem Alkohol ergeben. Große Weideflächen für die Rentiere sind ölverseucht, ebenso viele Flüsse und Seen. Nach der Schneeschmelze bleibt eine schwarze Rußschicht auf allen Pflanzen zurück. Manche Orte müssen täglich mit dem Tankwagen beliefert werden, weil das Leitungswasser unerträglich nach Öl schmeckt. Unter den Ureinwohnern gibt es ungezählte Selbstmorde, weil sie nicht mehr ihren traditionellen Gewerben nachgehen können. Wenn nichts geschieht, sterben diese Völker vor unseren Augen aus.“

Alles in Ordnung? Jeremej Aipin war Abgeordneter des Obersten Sowjets der UdSSR. Die Erzählung „Warten auf den ersten Schnee“, in der auch noch ein Parteisekretär und eine Komsomolsekretärin agieren, mutet wie eine Propaganda-Erzählung an; denn, so die Aussage, „Mukul ist genauso ein Jäger wie die anderen. Nur, daß sie Tiere und Vögel jagen und er - Erdöl!“ Daß diese zweckbestimmte Geschichte dann sieben Jahre später auch noch dem deutschen Leser dargeboten wird, spricht nicht gerade dafür, daß der Verlag gut im Stoff steht.

Übrigens: Nach der Lektüre des Buches hat man (für immerhin 30 DM) eine lose Blattsammlung in der Hand.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11+12/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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