Eine Annotation von Gisela Reller


Granin, Daniil: Das Jahrhundert der Angst
Erinnerungen.
Aus dem Russischen von Ganna-Maria Baumgardt.

Verlag Volk & Welt, Berlin 1999, 150 S.

 

Daniil Granin, Romancier, Erzähler und Essayist, wurde in diesem Jahr 80 Jahre alt. Er ist einer der wenigen bereits zu sowjetischen Zeiten populären russischen Autoren, die auch nach der Perestroika nicht verstummt sind. Dieses Reflexions- und Erzählbüchlein zu schreiben, das im Russischen einfach nur „Angst“ heißt, war dem Autor ein Lebensbedürfnis. „Die Angst“, schreibt er, „hat unser Leben viel zu sehr beherrscht. Ich will mit diesem Gefühl abrechnen, will mich ihm stellen, ihm nicht weiter ausweichen.“

Schon als Kind hatte Granin seinen Vater gefragt, was in dem geheimnisvollen Haus mit den Eisengittern vor dem Fenster vor sich gehe. Und der Vater sagte: „Die fangen Spione.“ Das war, bevor der Vater Anfang der dreißiger Jahre nach Sibirien verbannt worden war. Als Daniil German (den Namen Granin nahm er erst später an) am Elektronischen Institut, wo er studierte, wahrheitsgemäß in seinem Personalbogen schrieb, daß er der Sohn eines „Aberkannten“ sei, flog er raus. Danach verschwieg er diese Tatsache, immer in Angst, dieser Lüge überführt zu werden. Daniil Granin erinnert sich an viele Situationen, in denen bei ihm selbst oder bei anderen die Angst geistige Impulse erstickte, Charaktere verbog, kraftlos machte. Wir erleben Anna Achmatowa, Boris Pasternak, Konstantin Simonow, Alexander Twardowsky..., wie wir sie als ihre innig verbundenen Leser lieber nie erlebt hätten... Und: Wir leiden mit dem mutigen Michail Sostschenko, der es wagte, sich zu wehren.

Sich an prägende Momente des eigenen Lebens erinnernd, bekennt Granin, wie Angst auch ihn infizierte: als junger Soldat, im Berufsleben, später als politisch tätiger Autor. „Heute, da man alles sagen kann und jeder mit seiner Kühnheit protzt, macht mein früheres Verhalten mir zu schaffen. Ich möchte es ändern, aber es ist nicht mehr zu ändern.“

Die Ehrlichkeit und Konsequenz, mit der Daniil Granin bittere Erfahrungen aufarbeitet, machen dieses Buch zu einem mutigen literarischen Dokument. Doch leider räumt er seinen autobiographischen Erinnerungen weniger Platz ein als seinen philosophischen Exkursen - mit vielen Zitaten von Seneca bis Tolstoi und Heidegger. Zum Schluß geht er gar dazu über, lang und breit aus der Heiligen Schrift zu zitieren. Doch: „...man kann die Last der Verantwortung für sein Handeln auf nichts und niemanden abwälzen“ - meint jedenfalls Granin.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11+12/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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