Eine Annotation von Alfred Büngen


Brockmann, Matthias: Herr Luk und Mademoiselle Marianne und weitere Geschichten

Rubino Verlag, Karben 1999, 121 S.

 

... und weitere Geschichten. Der Leser fühlt sich unmittelbar an die Figur des traditionellen Geschichtenerzählers erinnert, der seinen Zuhörern sehr emotional von dem Handeln seiner Helden erzählt. Helden - wer sind die Helden in einem heutigen Zeitalter von Identitätsverlust und Konformität, gibt es sie überhaupt noch, darf es sie überhaupt noch geben?

Brockmann gibt liebevolle Antworten in 12 Geschichten. Menschen werden dann zu darstellenswerten, lebendigen Figuren, wenn sie ihre individuellen Stärken und Schwächen leben, sich selbst entdecken und sich mit ihren Schwächen, die vielleicht sogar öfter ihre Stärken sind, entwickeln. Die Grenzen gesellschaftlicher Normierung werden dabei umgangen, jedoch läßt Brockmann seine Figuren niemals in offene Rebellion verfallen. Herr Luk, der alternde Französischlehrer, betrachtet seine französische Schaufensterpuppe Mademoiselle Marianne als beinahe ideale Lebenspartnerin, wenn sie denn kochen könnte. Der Handwerker Hüppenspahn verstrickt sich für den Rest seines Lebens in ein alkohol-erotisches Verhältnis mit der Hausbesitzerin Meiersohn. Der halbfertig studierte Ingenieur Hans Martin flieht vor der so lange erhofften Auszeichnung einer Erfindung und einem Berg von Geld. Der männliche Autor in der Frauenliteraturgruppe kämpft einen verzweifelten Kampf um leckere Plätzchen (für diese Erzählung über das besondere Verhältnis zwischen einem älteren Mann und einem 17jährigen Mädchen erhielt der Autor den Völklinger Senioren-Literatur-Preis). Die Schwestern, die in der Abneigung gegen die Männer ihre Liebe zueinander entdecken, vor allem auch alte Rechte an Hermann, der wiederum seine Zuneigung zu türkischen Mitmenschen entdeckt. Viele andere Figuren mit Eigenarten und Besonderheiten, selbst der entmachtete Politiker AKM bleibt eine verständliche Person. Fast immer spielt die sehr offen skizzierte Sexualität der Erzählfiguren eine besondere, aber doch ständig andere, weil individuelle Rolle - Befreiung, Unterdrückung und Abhängigkeit, Lust, Zuneigung, Neugierde, Herrschaft und vieles mehr. Kein Buch von Außenseitern, keins von extravaganten Besonderheiten, vielmehr das Buch von sehr alltäglichen Helden, die in ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Realität versuchen, ihre kleinen Identitäten zu erhalten. So gibt es kein Positiv, kein Negativ, kein Richtig und auch kein Falsch. Die Erzählungen sind nichts anderes als die Liebeserklärungen des Autors an die kleinen Individualitäten unserer Gesellschaft. Und die sind ein wichtiger Trost in unserer täglichen Normierung. Gut, daß wir sie haben, unsere Geschichtenerzähler.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11+12/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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