Eine Rezension von Friedrich Schimmel


Menschliches Bewußtsein und Gehirn

Reinhard Werth: Hirnwelten
Berichte vom Rande des Bewußtseins.

Verlag C. H. Beck, München 1998, 231 S.

 

Die Welt eines Romanlesers unterscheidet sich erheblich von der Welt eines Hirnforschers. Lesen können beide, lesen müssen beide. Doch dem einen genügt der Text, der im Buch gedruckt steht, während den anderen eher das Hirn, das den Text hervorbringt, interessiert. Nein, weder an lebenden noch an toten Autoren unternimmt der Münchner Neuropsychologe Reinhard Werth Experimente. Ihm sind Experimente an Tieren wichtig. Hirnforschung beginnt im Tierreich. Wer über die Hirnwelten des Menschen Bescheid wissen will, weil Krankheiten das Bewußtsein aufgespalten oder gänzlich zerstört haben, der muß, was Tierschützer arg verurteilen, an Mäusen oder an Affen Aufschluß suchen. Reinhard Werth bekennt sich hierzu unumwunden. Um ein Gehirn anatomisch zu untersuchen, muß man es aus einem lebendigen Kopf nehmen. Das heißt immer: Das Tier muß getötet werden. Reinhard Werth ist sich der Problematik bewußt, doch wer Aufschluß sucht, muß Farbe bekennen. Bei ihm klingt das so: „Welche Empfindungen man bei dieser Arbeit hat? Das ist individuell verschieden. Nach einer gewissen Eingewöhnungszeit werden derartige Experimente und auch das Töten zur Routine. Alle, die ich kannte, behielten dennoch eine emotionale Beziehung zu den Tieren, über die es jedoch hinwegzuschauen galt. Man tat, was wissenschaftlich unumgänglich war. Der Tod war ein Teil der Forschungspraxis.“ Worüber Zivilisationskritiker heftig wettern, Moralisten die Zähne zeigen, empfindliche Naturen das Gruseln auf der eigenen Haut erfahren, der Hirnforscher darf, wenn er arbeiten will, nicht zimperlich sein. Da können Welten die Leute voneinander trennen. Ein Rest Unbehagen, eine nicht zu unterdrückende Erregung - das alles bleibt dem Leser unbenommen. Unweigerlich: Die Welt besteht aus vielen Hirnwelten. Die Verantwortung, die der Hirnforscher trägt, kann nicht vom einzelnen attestiert werden. Wo freilich die Grenzen seiner Tätigkeit liegen, das vermag kaum ein Außenstehender zu bestimmen. So bleibt das Problem aller Heilkunde: Der Patient ist dem Arzt ausgeliefert, denn über Kompetenz verfügt (hoffentlich ausreichend) nur jener.

Reinhard Werth stellt nicht nur Fälle dar, er führt den Leser auch ein in das komplizierte Gebiet der neurologischen Phänomene. Er gibt eine verständliche Darstellung der neurophysiologischen Grundlagen und fragt nach einem „wissenschaftlich adäquaten Bewußtseinsbegriff“.

Werth berichtet von Nomadenstämmen, die er für Experimente zur Raum- und Zeitwahrnehmung zu gewinnen versuchte. Man versteht plötzlich mehr von Phänomenen, wenn Patientenschicksale geschildert werden, von Menschen berichtet wird, denen eine Hälfte des Sehens regelrecht abhanden gekommen ist. Von Menschen gar, denen nur noch eine Seite ihres Körpers wahrnehmbar ist. Reinhad Werth referiert sein Fach nicht, er betont nachdrücklich den Zusammenhang von Kenntnis und eigener Erfahrung. Schulmedizin reicht nicht aus: „Über die Ebene wissenschaftlicher Ergebnisse und Theorien hinaus gewinnen wir durch die Begegnung mit betroffenen Personen detaillierteren Einblick in die unterschiedlichen Erscheinungsformen ihrer Hirnfunktionen, nehmen Anteil an ihrer Lebenswelt, versuchen, ihr Erleben und Verhalten zu verstehen.“

Reinhard Werth beschäftigt sich auch mit dem Phänomen des „unbewußten Sehens“, er widmet schließlich der Sozialwelt von Alkoholikern sein Interesse. Er läßt auch spektakuläre Episoden aus der Gerichtsmedizin nicht außer acht. Das Thema freilich ist nie ohne Brisanz. Davon schrieb schon der Arzt und Dichter Georg Büchner: „Wir müßten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren.“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11+12/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite