Eine Rezension von Rudolf Kirchner


Deutsche Geschichte in Biographien

Wilhelm von Sternburg (Hrsg.): Die deutschen Kanzler
Von Bismarck bis Kohl.

Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1998, 488 S.

 

Die Sammlung aller deutschen Kanzler zwischen 1871 und 1998 erschien in der vorliegenden Fassung am Ende der Ära Kohl; allerdings geht sie auf eine Ausgabe aus dem Jahre1985 zurück, die die Kanzler bis Helmut Schmidt behandelte und die 1994 als Neuausgabe auch Helmut Kohl mit einbezogen hatte. Die 28 Biographien stammen von 27 Autoren; lediglich die von Gustav Adolf Bauer und Hermann Müller wurden von dem Historiker Martin Vogt geschrieben. Der Herausgeber, der Journalist Wilhelm von Sternburg - seit 1994 freier Autor -, hat selbst zahlreiche Biographien verfaßt. Hier versammelt er vor allem erfahrene Autoren von Wolfgang Abendroth (1906-1985) bis Joachim Fest (1926), von Rudolf Augstein (1923) bis Theo Sommer (1930), vorwiegend Historiker, Politikwissenschaftler und Journalisten, die sich teilweise bereits längere Zeit mit den jeweiligen Persönlichkeiten bzw. ihrer Zeit beschäftigen.

Dementsprechend kann man auch als Leser mit recht unterschiedlichem Interesse an den Band herangehen. So kann man fragen, wie denn der „Spiegel“-Herausgeber, Rudolf Augstein, über Bismarck oder der Herausgeber der „Zeit“, Theo Sommer, über Helmut Schmidt schreiben. Man kann auch gespannt sein, wie es Joachim Fest gelingt, aus seiner umfänglichen Hitler-Biographie einen Beitrag von etwa 25 Seiten zu formulieren. Für die Mehrzahl derjenigen, die zu dieser Biographiensammlung greifen, wird es aber wohl um eine knappe Information über alle deutschen Kanzler gehen. Und dabei kann sich das Interesse sogar stärker den weniger bekannten Persönlichkeiten zuwenden. Ich kann mir vorstellen, daß so mancher die Beiträge zu Bismarck oder Hitler, Adenauer oder Brandt als wesentlich bekannt schneller überblättert als solche, die sich mit Caprivi oder Hertling, mit Wirth oder Marx befassen. Insofern hätte man sich manchmal gerade von den weniger bekannten Kanzlern eine ausführlichere Darstellung gewünscht. Denn bei der erforderlichen Knappheit der einzelnen Artikel macht es schon einen Unterschied, ob man etwa 30 Seiten zur Verfügung hat, wie Sternburg zu Stresemann, oder nur knapp zehn Seiten, wie Peter Wulf zu Konstantin Fehrenbach.

Natürlich unterscheiden sich die einzelnen Beiträge in ihrer inhaltlichen Gestaltung. Vorherrschend sind biographische Skizzen mit etwas Zeitkolorit und politischer Einordnung. Aber es gibt auch ganz andere Formen. So liest sich das Bismarck-Porträt von Augstein wie ein impressionistisches Bild: viele einzelne Striche, viele Farbnuancen, oft undeutlich im Detail, aber treffend im ganzen. Und der nachfolgende Beitrag von Klaus-Rüdiger Metze über Leo von Caprivi erscheint wie der Versuch einer Rehabilitierung dieses „vergessenen“ Kanzlers, der noch ganz im Schatten seines Vorgängers Bismarck stand. Der „Übergangskanzler“ Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst, dessen Dienstzeit dazu genutzt wurde, seinen Nachfolger Bernhard von Bülow aufzubauen, wird gerade heute unter einem spezifischen Aspekt wieder interessant: als Kanzler des Übergangs vom 19. in das 20. Jahrhundert. So kann man in der chronologischen Abfolge fortfahren und wohl bei fast jeder der beschriebenen Persönlichkeiten etwas entdecken, das charaktersitisch für die Person und/oder ihre Zeit ist.

Für die innere Struktur des Bandes wäre es vielleicht nicht schlecht gewesen, wenn man jene vier Abschnitte gebildet hätte, die in einer Zeitübersicht auf S. 488 dargestellt sind. Vor jedem der Abschnitte wäre dann ein kurzer Vorspann mit einer knappen Darstellung der jeweiligen Epoche bzw. Zeitetappe möglich gewesen: das Kaiserreich mit seinen acht Kanzlern von Bismarck über Caprivi, Hohenlohe-Schillingsfürst, Bethmann Hollweg, Michaelis und Hertling bis zu Max von Baden; die Weimarer Zeit mit 13 Kanzlern von Friedrich Ebert - dessen Aufnahme in den Band vom Autor Abendroth selbst ein wenig angezweifelt wird - über Scheidemann, Bauer, Müller, Fehrenbach, Wirth, Cuno, Stresemann, Marx, Luther, Brüning und Papen bis zu Schleicher; die NS-Zeit mit Hitler; die Bundesrepublik mit ihren - bis 1998 - sechs Bundeskanzlern von Adenauer über Erhard, Kiesinger, Brandt und Schmidt bis zu Kohl.

Bei der Darstellung der Bundeskanzler wird recht deutlich, daß die 1985 entstandenen Texte nicht gründlich bearbeitet und aktualisiert worden sind. Wenn der Herausgeber in seinem Vorwort von 1993 (!?) zu Kohl anmerkt, daß dessen Werk ja noch nicht abgeschlossen sei, weshalb man sich bei ihm mehr auf eine Charakterstudie verständigt hätte, so klingt das in einem 1998 erschienenen Buch natürlich etwas seltsam.

Insgesamt ist der Informationswert dieser Biographiensammlung recht hoch. Ein Literaturverzeichnis bietet wichtige Titel zur Geschichte Deutschlands, insbesondere seit 1871, sowie zu jedem Kanzler. Eines sollte man allerdings auf keinen Fall wiederholen: die 1985 geschriebenen Texte in einem der nächsten Jahre, „aktualisiert“ um den neuen Kanzler Gerhard Schröder, erneut aufzulegen. Wenn es einmal eine neue Sammlung dieser Art geben sollte, wäre es vielleicht auch angebracht - und sei es in einem Anhang -, die Ministerpräsidenten der DDR von Otto Grotewohl über Willi Stoph, Horst Sindermann, Hans Modrow bis zu Lothar de Maizière aufzunehmen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11+12/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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