Eine Rezension von Bernd C. Hesslein


Die Mauer im Kopf

Heinrich Senfft: Die sogenannte Wiedervereinigung

Rowohlt. Berlin Verlag, Berlin 1999, 208 S.

 

„Und wenn die Wiedervereinigung kommen sollte: Die Mauer, die der Osten errichtet hat, ist an einem Tag niedergerissen. Doch die geistige Mauer, an der wir beide arbeiten, wird auch in zehn Jahren noch nicht abgetragen sein.“

Prophetische Worte, gesprochen vom Studentenkabarett „Das Bügelbrett“ ein Jahr nach dem Bau der Mauer. Was damals noch kassandrahaft klang, ist zur beklemmenden Wirklichkeit geworden. West ist West geblieben, und Ost will Ost bleiben. Da hilft auch nicht die emphatische, doch tatenleere Beschwörung der „Berliner Republik“.

Zum zehnten Jahrestag des unerwarteten Falles der Mauer werden wir zwar nicht mehr die Vision von den blühenden Landschaften präsentiert bekommen und auch nicht die Behauptung, allen werde es besser gehen und niemandem schlechter. Aber es wird, wie stets bei solchen Anlässen, viel Weihrauch gestreut und nicht nach den Ursachen für das Ausbleiben der Einheit gefragt, die sich in jeder Meinungsumfrage andeuten, sei es zum Krieg im Kosovo oder auch nur über die eigenen Zukunftserwartungen. Dabei ist die Diagnose eindeutig: ein schwerer Fall von Mauermeise, wie die Westberliner mit ihrem bildhaften Witz die amtliche DDR-Phobie nannten, oder, mit den Worten des „Bügelbretts“, die geistige Mauer, „an der wir beide arbeiten“, ist noch nicht abgetragen.

Einen erneuten Versuch dazu, neben Peter Bender und Günter Gaus, den Veteranen deutsch-deutscher Aufklärung, unternimmt Heinrich Senfft mit seinem Buch. Mit Akribie und Leidenschaft zählt er die Fehler und Versäumnisse vor allem der alten Bundesrepublik auf. Dazu gehört für ihn der Mißbrauch des Artikels 23 des Grundgesetzes, der aus dem Beitritt „die bedingungslose Übernahme eines Landes, dessen Bewohner nicht mehr gefragt wurden“, machte. Senfft nennt es mit Absicht einen „Anschluß“, der von einem dogmatischen Antikommunismus bestimmt sei. Dieser mache es Politikern wie Bundesbürgern des einstigen Weststaates bis heute unmöglich zu erkennen, wie sehr die beiden deutschen Staaten durch eigene Handlungen einander bedingt haben, aber auch, daß sie die Verantwortung für Hitlers Krieg verbinden müßte. Bei aller Provokation plädiert Senfft für einen vorurteilsfreien Umgang miteinander.

Nach Uwe Wesel (Ein Staat vor Gericht) hat sich keiner mehr so richtig und auch dem Publikum verständlich mit der Art und Weise beschäftigt, wie westdeutsche Richter und Staatsanwälte im Handumdrehen die Staatsverbrechen der DDR abgehandelt haben. Heinrich Senfft, der renommierte Rechtsanwalt, tut es mit Sachkenntnis und macht dabei deutlich, wie politisch und staatsorientiert die Justiz im Rechtsstaat Bundesrepublik von Anfang an war, von den KP-Urteilen bis zu den RAF-Prozessen und den Verfahren gegen die einstigen Zunftgenossen aus dem „Unrechtsstaat“ DDR.

Das alles ist nicht neu. Nicht für Menschen, die das Denken nicht aufgegeben haben, wie der Autor einschränkt. Lesenswert bleibt der schmale Band, da er, bei aller subjektiven Auswahl und Wertung der Ereignisse, daran erinnert, wie wir wurden, was wir sind. Daß der Autor dabei sich mehr mit den Fehlern und Fehlentwicklungen der alten Bundesrepublik beschäftigt statt - wie angekündigt - mit der sogenannten Wiedervereinigung, erweist sich als Gewinn. Es mag den einstigen Brüdern und Schwestern die Bonner Republik, die sie vereinnahmt hat, menschlicher erscheinen lassen, weil fehlbar - wie auch sie in ihrer DDR.

1979 kratzten zehn „Zornige alte Männer“ am Lack der Bundesrepublik. Mit einigem öffentlichen Widerhall. Heute kann man schon für einen dankbar sein, dem dies gelingen sollte.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11+12/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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