Eine Rezension von Edeltraud Hinkelmann


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Individuelle Konterrevolution gegen das Spießertum?

 

Holger Rust: Die Revolution des Spießertums
Wenn Dummheit epidemisch wird.

Ullstein Verlag, Berlin 1999, 240 S.

 

Das Spießertum hat Revolution, es, Neutrum - nicht ein Spießer oder möglicherweise alle Spießer gehen auf die Barrikaden. Das wäre eigentlich ja auch undenkbar, ein Spießer revoltiert nicht. Da müßte er schon aufhören, Spießer zu sein. Und darum geht’s, ums Aufhören. Dazu aber braucht man Einsichten: Was macht einen Spießer aus? Wo hat sich das Spießertum breitgemacht? Wie gefährlich ist das für unsere heutige gesamtdeutsche Befindlichkeit, für unsere gesellschaftliche Situation - und erst für unsere morgige?

Holger Rust, Jahrgang 1946, Hochschullehrer und Unternehmensberater, bietet in seinem Buch mit diesen aufgeworfenen Fragen auch mögliche Antworten. Mit kritischem Blick prüft er, in welchem geistigen Zustand, auf welchem momentanen Niveau, mit welchem qualitativen Anspruch wir uns heute in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen bewegen. Dabei durchzieht unübersehbar ein Thema alle vierundzwanzig Kapitel seines Buches: die „Verspießerung der Kultur durch ihre fortwährende Unterforderung“, deren Folge die Verspießerung der Alltagskultur ist.

Mit „Revolution des Spießertums“ meint Rust nicht die gewaltsame Machtergreifung, sondern eine Mentalität, die schleichend ist und um sich greift. Ein neues Spießertum wächst in unserer Gesellschaft heran, eine „kulturelle Elite“, und die ist immer auf der Suche nach Vorteilen für sich. Diese, so nutzlos und billig sie auch sind, verteidigt sie dann rücksichtslos - auf Kosten der Allgemeinheit.

Der Spießer, das ist einer, der schnelle Urteile, Lösungen und Schuldige parat hat. Er ist rechthaberisch und weigert sich, komplizierte Auseinandersetzungen zu führen. Ein Spießer ist Opportunist. Er wählt den Weg der Anpassung, er ist „einer, der dem Nachgeplapper von Begriffen und Ideologien mehr Raum gibt als dem eigenen Gedanken“. Zur Verdichtung dieser Charakterisierung wählt Rust ein Bild aus Kleists Über das Marionettentheater: „Der Grundzug des Spießers ist die Pose. Der Jüngling, der eine zufällige anmutige Bewegung wiederholen will, die einen Beobachter an eine griechische Statue erinnerte, wird in dem Moment, in dem er zur verkrampften Pose wechselt, zur Karikatur seiner selbst, zum Spießer... spießig werden unsere Haltungen erst, wenn die bloßen, von außen geforderten Posen gänzlich an die Stelle des verantwortungsvollen Nachdenkens treten.“

Nicht der Kleinbürger, wie irrtümlich angenommen, ist identisch mit einem Spießer. Spießig zu sein, davor ist keiner gefeit.

Da gibt es zum Beispiel die Alltagsrituale, u.a. erkennbar bei der Wahl des Wohnsitzes. Am Typ der Wohnung ist der Typ des Inhabers zu erkennen. Die einen wählen da das L-förmige Reihenhauswohnzimmer, entsprechend ihrer Hausherren- und Hausfrauenmentalität; die anderen die Designer-Lofts mit exhibitionistischer Ausstattung, um das Private als öffentliche Statements zu dokumentieren.

Ein anderes Ritual des Spießers ist sein Prominentenwahn. Normalerweise ist ja Prominenz etwas Erworbenes, etwas, das mit außergewöhnlicher Leistung zu tun hat. Beim Prominentenwahn ist das nicht mehr so. Da werden die Auserwählten am Fließband produziert. Denn in einem sich „explosionsartig ausbreitenden Medienuniversum“ - in den „Nullmedien“ - fordert der Konkurrenzkampf ständig das neue Sensationelle. Und das behält dennoch immer seine alten Inhalte. Die stets alten und neuen Prominenten werden zu den Exhibitionisten, zu „Hunderten von nichtssagenden Komparsen und Komparsinnen“, die als „Stars auf den Seiten einer aufgekratzten Journaille“ konkurrieren: die Models und Moderatoren und die Politiker - Claudia Schiffer, Verona Feldbusch, Hiltrud (Hillu) Schröder, Birgit Schrowange, Arabella Kiesbauer und Nina Ruge, um nur einige der wechselnden Berühmtheiten zu nennen. Das Publikum, der Voyeur, ist begeistert. Das Leben ist eine „Klatschrunde“.

Der gleiche Wahn herrscht in anderen Lebensbereichen: in den Frauenwelten (Frauenzeitschriften), in den Männerwelten (den Männerzeitschriften) und kulminiert in einer wahren Sexbesessenheit.

Eine Begleiterscheinung solch geistigen Zustands ist die Verunsicherung, die Angst: „Man faßt nichts mehr an, weil die Angst besteht, es könnte ’runterfallen...“ Selbst solche Tatbestände, wie Probleme gelöst, Herausforderungen bestanden zu haben, bescheren nicht eine notwendige Gelassenheit gegenüber den nächsten Turbulenzen des Lebens; denn spätestens seit es die Tragödie gibt, weiß man, das Scheitern ist unausweichlich, zumindest aber immer möglich. Aus der Sicht des Spießers ist es darum immer besser - wenn’s geht -, die Verantwortung zu meiden, sich lieber abzusichern.

Holger Rust sieht in seiner kritischen Bestandsaufnahme die sich breitmachende Geistlosigkeit auch auf dem Gebiet der Bildung, und da sowohl in der Pädagogik als auch in der Hochschullehre. Denn offensichtlich gelingt es der Pädagogik nicht, „ein Bild von der Wirtschaft, von der künftigen Situation der Arbeitswelt, vom Strukturwandel, von der Globalisierung und vor allem von den Chancen und der Verantwortung junger Menschen in dieser neuen Szenerie zu vermitteln. Und am allerwenigsten gelingt es ihr, die Lust an der Zukunft zu vermitteln.“ Und ebensowenig wie die Schüler sind die Studenten auf das Leben vorbereitet. Sie entscheiden sich eher für den „Hinweis auf Systemschwierigkeiten und den Rückzug als für die Initiative, Nachfrage, intellektuelle Provokation“.

Den Ausweg aus diesem Zustand deutscher Befindlichkeit sieht Rust in der Bereitschaft des Individuums, da rauszuwollen. Denn das System ist nicht verrottet. Der einzelne soll „sich in den Freiheiten des Systems so bewegen, daß er seine in ihm selbst (gewissermaßen systemgenetisch) angelegte Fähigkeit zur selbstgesteuerten Modernisierung auch wahrnehmen kann“. Er müßte mehr Bereitschaft zur Veränderung zeigen und Zukunftslust verspüren und diese „Lust an der Zukunft zum Konzept eines gemeinsamen Umbaus erheben“. Der Relativität der eigenen Position, die immer auch einzukalkulieren ist, sollte man dabei mit Gelassenheit gegenüberstehen.

Rusts treffsichere Bestandsaufnahme der geistigen Befindlichkeit im nun seit zehn Jahren gesamtdeutschen Land kann den Blick des Lesers schärfen für den Werteverfall in allen kulturellen Bereichen, für den Tatbestand, daß es so ist, jedoch nicht für die Ursachen, warum es so ist. Das System ist „zukunftsoffen“, sagt Rust, und da bleibt dann nur der einzelne Mensch zurück, der darauf nicht „zukunftsoffen“ reagiert, der aber etwas ändern, neue Ideen finden muß, bereit sein muß zur Innovation. Eine neue „Gründermentalität, die nicht nur auf Betriebe zielt, sondern auch auf Kultur, Gesellschaft und Politik“, ist gefragt. Nach Rust kann die Reform des Landes nicht aus dem System kommen, sondern nur aus der „individuellen Konterrevolution“ gegen das Spießertum.

Und das verblüfft. Weil Rust in seinem Buch feststellt, daß es Defizite in der Pädagogik, in der Wissenschaft, in der Bildung allgemein gibt, daß die Medien Nullmedien sind, daß sich in der Gesellschaft Angst und Pressimismus breitmachen - Angst vor dem Mystischen, vor der Apokalypse, Angst überhaupt -, daß Modelwahn, Prominentenwahn, Sexwahn und möglicherweise andere Besessenheiten die gesellschaftliche Landschaft bestimmen. Und das sind aus meiner Sicht gesellschaftliche Erscheinungen, zwar von Menschen so eingerichtet, aber nun nicht von jedem einzelnen, der da in dieser Gesellschaft lebt, sondern von denen, die das Sagen haben in der Kultur, in der Politik, in der Wirtschaft.

Schwer vorstellbar, wie hier der einzelne „seine Lust an der Zukunft zum Konzept eines gemeinsamen Umbaus“ erheben könnte.

Umdenken ohne andere Umstände zu schaffen? Auch schwer vorstellbar. Aber der Appell an den Menschen, gegen seine Bewegungslosigkeit anzukämpfen, ist schließlich immer gut.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11+12/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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