Eine Rezension von Karl-Heinz Arnold


Streitschrift mit Positionsbestimmung

Oskar Lafontaine: Das Herz schlägt links

Econ-Verlag, München 1999, 316 S.

 

Unmittelbar nach seinem Rücktritt - als Finanzminister der Regierung Schröder am 11.März 1999 - hatte er nicht beabsichtigt, die Gründe hierfür darzulegen, schreibt Oskar Lafontaine im Vorwort seines Buches. Darin hat er nun die Gründe, wohl genauer: den Grund, genannt.

„Der Ministerrücktritt als politische Entscheidung ist ein fester Bestandteil demokratischer Kultur. Ein Minister sollte nicht nur dann zurücktreten, wenn die Medien ihn aufgrund eigenen Fehlverhaltens dazu drängen, sondern insbesondere dann, wenn er mit der Politik seines Regierungschefs nicht mehr einverstanden ist. Doch dies scheinen Teile der Öffentlichkeit völlig vergessen zu haben“, fügt er hinzu. Und er verweist auf den „in diesem Sinne klassischen“ Rücktritt Gustav Heinemanns „vom Amt des Innenministers wegen der Wiederbewaffnung der Bundeswehr und des autoritären Führungsstils Adenauers“. Das war 1950, und Heinemann gehörte damals - bis 1952 - noch zur CDU. Auch der gleichzeitige Rücktritt vom Amt des Parteivorsitzenden sei unvermeidlich gewesen. „Ein ständiger Streit zwischen Bundeskanzler und Parteivorsitzendem hätte der Regierung und der SPD sehr geschadet.“

Zu den beiden Demissionen, die weltweit Aufsehen erregt haben, ist damit im Grunde schon alles gesagt. Aber Lafontaine hat sein Buch nicht hauptsächlich veröffentlicht, um diese Entscheidungen näher zu erläutern oder zu rechtfertigen, die er nach vier Jahren im SPD-Vorsitz und nur 139 Tagen im Ministeramt offenbar aus Gewissensgründen zu treffen hatte. Dies wäre dann vielleicht nur ein kleines Buch geworden. Hier aber handelt es sich um ein großes Buch, mit dem der SPD-Politiker sich nach einem reichlichen halben Jahr des Schweigens in die Debatte um die Zukunft seiner Partei und auch um den Gang der deutschen Dinge einbringt, einmischt.

Ja, er könnte dieser Debatte, was die SPD betrifft, dauerhaftere Impulse geben, als er 1995 mit seiner Rede auf dem Parteitag in Mannheim ausgelöst hat. Die sind inzwischen doch wohl verhallt. Geblieben ist die noch immer etwas zwiespältige Erinnerung der Öffentlichkeit, daß mit dieser Rede der schwache Parteivorsitzende Scharping aus dem Amt gehoben wurde und der Redner selbst den Vorsitz erlangte. Wer deswegen mit Lafontaine hadert, muß sich fragen lassen, was denn ein Parteivorsteher gelten kann, der sich rhetorisch absetzen läßt, und wie man den Führungsanspruch desjenigen leugnen könnte, der binnen einer Stunde eine Parteitagsmehrheit hinter sich bringen kann.

Überdenkt man den Titel, der Leonhard Frank nachempfunden ist, seinen Lebenserinnerungen von 1952 Links, wo das Herz ist, und liest man das Vorwort, wird bereits völlig klar, warum und wozu dieses Buch verfaßt worden ist. Wenige eindeutige Sätze lassen das Anliegen erkennen. Sie erklären auch die Aufregung, die sich sofort in der Öffentlichkeit eingestellt hat, als der Text bekannt wurde. Der Autor spricht Klartext. Es verwundert nicht, daß seine Kernsätze allen Medien, allen Politikern unerwünscht sind, deren Herz rechts oder in der vermeintlichen neuen Mitte schlägt. Diese Sätze müssen zitiert werden, weil sie im Original so beweiskräftig und am besten geeignet sind, das Buch als Streitschrift und Positionsbestimmung des Autors zu charakterisieren.

„Nach meinem Rücktritt hat die Politik der rot-grünen Koalition eine Entwicklung genommen, die ich nicht für möglich gehalten hätte und die mich mit großer Sorge erfüllte. Daß ausgerechnet unter einer sozialdemokratisch geführten Bundesregierung die Bundesrepublik Deutschland sich zum erstenmal an einem Krieg beteiligt, der das Völkerrecht mißachtete und mit dem Grundgesetz nicht vereinbar war, ist schwer zu verkraften. Der Kosovo-Krieg rührt an den Nerv des sozialdemokratischen Politikverständnisses.“ So die ersten Kernsätze.

„Wir hatten mit dem Versprechen einer anderen Politik, mit dem Versprechen, mehr soziale Gerechtigkeit in unserem Land zu verwirklichen, die Wahl gewonnen.“ Damit kommt Lafontaine zum zweiten und eigentlichen Kernpunkt: Er kann nicht schweigen, „wenn das Vertrauen der Wählerinnen und Wähler durch einen politischen Richtungswechsel mißbraucht wird“. Sein Buch „wendet sich daher gegen den radikalen Kurswechsel der rot-grünen Koalition zum Neoliberalismus und gegen das Vom-Tisch-Nehmen der Wahlversprechen“.

Sozialdemokraten, so betont er weiter, „haben nur dann eine Chance, politische Mehrheiten in der Bundesrepublik Deutschland zu erreichen, wenn sie die Interessen der Arbeitnehmer, der Arbeitslosen und Rentner vertreten. Im Unternehmensbereich müssen sie sich vor allem um kleinere und mittlere Betriebe kümmern. Wenn sie auf das Gerede einer Minderheit hereinfallen, die seit Jahren nach dem Motto verfährt, Reformen und Verzicht stets bei den sozial Schwächeren einzufordern und selbst bei hohen Einkommen und Vermögen möglichst wenig Steuern zu zahlen oder möglichst viel Geld ins Ausland zu schaffen, dann werden sie ihren Auftrag verfehlen.“ Er will dazu beitragen, betont Lafontaine abschließend im Vorwort, „daß sich Deutschland nicht noch weiter auf den Irrweg des Neoliberalismus begibt. Vor allem darf die SPD ihre Seele nicht verkaufen.“

Diese notwendigerweise ausführlichen Zitate lassen erkennen, daß es dem Autor „um den fundamentalen Richtungsstreit in der SPD“ geht. Aus dem Gewicht der großen Mitgliedschaft sowie Anhängerschaft dieser Partei und aus den von Lafontaine aufgeworfenen politischen Grundfragen ergibt sich die nationale Bedeutung dieser Auseinandersetzung und damit auch des vorliegenden Buches. Hier wird die Frage nach dem Kurs, nach den Prioritäten künftiger Innen- und Außenpolitik der Bundesrepublik gestellt. So dürfte Das Herz schlägt links das wichtigste deutsche Sachbuch am Übergang zum nächsten Jahrtausend sein.

Es ist ein schonungsloses Buch, weil der Autor mit einer gut belegten schnörkellosen Kritik für Aufregung, vielleicht auch Betretenheit oder Wut sorgt. Dabei gesteht er auch eigene Fehler ein, man könnte sagen: in Maßen, aber das müßte im einzelnen nachgewiesen werden. Lafontaine verbietet sich nicht den Mund - weder gegenüber Spitzenpolitikern der Grünen, die „den aufrechten Gang verloren“ haben, noch gegenüber Gerhard Schröder. Dabei geht er auch mit verteilten Rollen vor, teils sagt er’s direkt, teils läßt er’s andere sagen: Indirekt: Da wird der SPD-Politiker Peter Glotz, der sich aus der aktiven Rolle verabschiedet hat, mit seinem Buch Die Jahre der Verdrossenheit zitiert. Im Mai 1993 sitzen einige Vorstandsmitglieder „bei dem Saarländer zusammen“. Schröder „bleibt ausgeklammert. Er ist berauscht von der Idee, daß der Moschusgeruch der Macht die Leute betäubt. Deshalb wiederholt er täglich sechsmal die Formel ,Ich will alles‘ (Parteivorsitz und Kanzlerschaft, KHA). - Also muß man dafür sorgen, daß er gar nichts bekommt.“

Andererseits erfährt man auch direkt, vom Autor, wie es in der Politik, also unter Politikern, zugeht und wie sehr Gerhard Schröder wenigstens einen Anteil an der Macht wollte, ein Begehren, das Lafontaine sicherlich nachvollziehen kann - aber man darf auch hier nicht von der Frage nach dem Wozu absehen. Vier Tage vor der Bundestagswahl 1994 also, die bekanntlich von der CDU/CSU gewonnen wurde, „erklärte Schröder sich öffentlich bereit, auch im Falle einer großen Koalition unter Kanzler Kohl als Wirtschaftsminister nach Bonn zu kommen, und fügte hinzu, Kohl sei für ihn ,nie eine Unperson‘ gewesen, sondern ,ein Mann, dessen Lebensleistung ich nie in Abrede gestellt habe‘. Einen Tag später sagte Theo Waigel zu mir im Bundesrat: ,Schönen Gruß von Kohl. Den Schröder nimmt er nicht.‘ Das saß.“ Auch mit solchen Passagen sorgt der keineswegs emotionslose Verfasser für Aufregung.

Lafontaine spart keine Themen der 90er Jahre aus, weder die Asylrechtsprobleme der Bundesrepublik noch die Personalquerelen der SPD, noch das Verhältnis DeutschlandFrankreich, das er als Francophiler sieht und als belastet vom gemeinsamen Papier Schröder/Blair. Daß er damit zum Verhältnis Deutschland-USA und Europa-USA Stellung nimmt, versteht sich. Er schildert die „schlitzohrige Art“ Helmut Kohls ebenso wie sein eigenes Verhältnis zu Willy Brandt. Er geht streitbar auf Fragen der internationalen Finanzpolitik ein und spricht sich erwartungsgemäß dafür aus, die internationale Spekulation einzudämmen. So ist das Buch auch ein Diskussionsbeitrag zu aktuellen Problemen der Weltwirtschaft wie zu anderen brennenden internationalen Fragen.

Wenn Lafontaine in einem Ausblick, dem letzten von 21 kurzen Kapiteln, von der politischen Aufgabe der Sozialdemokratie spricht, „einen wild gewordenen Kapitalismus zu bändigen“, wenn er fordert, „dem angelsächsischen Kapitalismus einen europäischen Sozialstaat gegenüberzustellen und dem deregulierten Weltmarkt einen Ordnungsrahmen zu geben“, weiß man, daß auch dieser Mann alles will - nur erkennbar nicht für sich, sondern um ein Wahlversprechen der SPD zu erfüllen, nämlich „die notwendige Erneuerung mit sozialer Gerechtigkeit zu verbinden“. Der Diskussion um dieses Grundanliegen der Mehrheit des Volkes neue Nahrung und gewichtige Argumente gegeben zu haben könnte sich als das wichtigste Verdienst dieses Buches erweisen. Es zeichnet sich durch Verständlichkeit und sprachliche Klarheit aus. Es ist - bei allem deutlichen Bemühen um Sachlichkeit - in mancher Hinsicht ein hitziges Buch. Nach den mutmaßlichen Intentionen des Autors soll dies wohl auch sein. Es ist gewollt. Er regt sich auf und will aufregen. Das ist ein großer und seltener Vorzug.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11+12/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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