Eine Rezension von Herbert Mayer


Vergangenheitsdebatte ohne Ende

Christoph Kleßmann/Hans Misselwitz/Günter Wichert: Deutsche Vergangenheiten - eine gemeinsame Herausforderung
Der schwierige Umgang mit der doppelten Nachkriegsgeschichte.

Ch. Links Verlag, Berlin 1999, 340 S.

 

Vorliegender Band enthält überarbeitete Beiträge, die auf der Konferenz „Geteilte Vergangenheit - eine Geschichte“ Ende Oktober 1998 in Potsdam gehalten wurden. Veranstalter der Konferenz, die durch die Bundeszentrale für Politische Bildung gefördert wurde, waren die Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung, die Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalens und das Zentrum für zeithistorische Forschung Potsdam.

Der Band bilanziert das Verhältnis der „beiden deutschen Teilgeschichten“ zueinander und den Umgang mit ihnen. Die Herausgeber betonen zu Recht im Vorwort: „Mit der Wiederherstellung der nationalen Einheit durch den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes war die DDR Geschichte geworden. Als historischer Gegenstand aber erlangte sie eine internationale Aufmerksamkeit wie selten zuvor. Zugleich vollzog sich ein nachträglicher Identifikationsprozeß vieler Ostdeutscher mit ihrem untergegangenen Staat, der irritierend, aber bei näherem Hinsehen keineswegs überraschend war. Die wenigsten wünschten sich die DDR zurück, aber der rauhe Wind, der in der marktwirtschaftlichen Bundesrepublik im Zeitalter der globalen Verflechtung von Märkten, Staaten und Institutionen wehte, ließ viele frösteln.“ Zu unterstreichen ist ihre Feststellung, daß im Umgang mit der Geschichte ein Schlüsselelement zum Verständnis mancher Probleme der Gegenwart liegt und differenziert und „ohne Verteidigungs- und Missionseifer“ über historische Probleme zu debattieren sei.

Der Band ist in vier Komplexe gegliedert. Im ersten Teil „Geteilte Vergangenheit - eine Geschichte?“ wird, gewissermaßen zum Konferenzthema einleitend, eine Bestandsaufnahme geboten. Bernd Faulenbach bilanziert die letzten acht Jahre „deutsch-deutscher Vergangenheitsdebatte“, wobei er vermerkt, daß sie viele Ebenen und Themen umfaßt. Peter Steinbach stellt beide deutsche Staaten „als postnationalsozialistische Systeme“ in die Koordinaten von historisch-politikwissenschaftlicher Forschung und Interpretation. Zwar auf der Hand liegend, aber manchmal vergessen: Bewertungen der Vergangenheit sind zu keiner Zeit und in keinem politischen System eine reine wissenschaftliche Angelegenheit, sondern stets auch das Ergebnis politischer Ziele, die mit Hilfe der Geschichtsschreibung durchgesetzt werden sollen, was Gefahren in sich birgt. Fritz Klein befaßt sich mit dem Problem, daß die Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit eine gemeinsame Aufgabe von „Ost“ und „West“ ist.

In einem zweiten Komplex werden die „Rahmenbedingungen deutscher Politik“ in der Zeit der Zweistaatlichkeit ausgelotet. Peter Bender analysiert, welche Handlungsspielräume beide Staaten in ihren Bündnissystemen hatten. Er wertet sie als „ungleiche Chancen“, auch wenn beide deutsche Staaten von Entscheidungen in ihren Bündnissen abhängig waren, auf die sie wenig Einfluß nehmen konnten, haben sie vorhandene Spielräume unterschiedlich genutzt. Benders Beitrag wird von Michael Lemke und Werner Link jeweils zum Thema „Der lange Weg zum geregelten Nebeneinander“ untersetzt, während Lemke dabei die Deutschlandpolitik der DDR von Mitte der 50er bis Mitte der 70er Jahre verfolgt, erörtert Link die bundesdeutsche Deutschlandpolitik erst ab Mitte der 60er Jahre.

Der dritte Komplex zerfasert etwas, da verschiedene Themen - die z. T. auf der Konferenz in Arbeitskreisen, nicht aber im Plenum behandelt wurden - zusammengeführt werden. Drei Beiträge gruppieren sich um den Problemkreis von Vergangenheitspolitik und Geschichtswissenschaft. Sigrid Meuschel gelangt zum Thema „Legitimationsstrategien“ in beiden Staaten zur Auffassung, daß sie sich nicht nur voneinander unterschieden, sondern auch innerhalb verschiedener Zeiträume variierten. Jürgen Danyel behandelt den der nationalsozialistischen Vergangenheit folgenden Elitenwechsel und die „Bewältigungspolitik“ in beiden Staaten, Martin Sabrow untersucht die gegensätzlichen Geschichtsbilder und die deutsch-deutsche „Historikerkonkurrenz“ als Wahrnehmungsgeschichte.

Zwei Beiträge befassen sich mit Fragen der Wirtschafts-, Kultur- und Sozialpolitik. Arnold Sywottek reflektiert sie in ihrer Bedeutung als Legitimationsstrategie und -funktion, Dietrich Mühlberg stellt unter der Überschrift „Von der Arbeitsgesellschaft in die Konsum-, Freizeit- und Erlebnisgesellschaft“ Überlegungen zum Bedürfniswandel in beiden deutschen Gesellschaften an. Während Manuela Glaab, gestützt auf empirische Untersuchungen, sich zur „Präsenz des deutschen Nachbarn im Bewußtsein der Bevölkerung“ äußert, sieht Friedrich Wilhelm Graf die Evangelische Kirche als „kritische Institution und Brücke zwischen Ost und West“. Zwei Autoren untersuchen den juristischen und politischen Umgang mit Oppositionellen in den beiden deutschen Staaten: Falco Werkentin befaßt sich mit den fünfziger Jahren, Dorothee Wierling - unter dem Blickwinkel der Generationsproblematik- mit den „Achtundsechzigern“.

Der Komplex wird abgeschlossen vom Exkurs „,Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen ...‘ Von der Friedenspflicht der Deutschen“, zu dem als Zeitzeugen Joachim Garstecki und Egon Bahr auf einer Abendveranstaltung der Konferenz referiert hatten.

Im vierten Teil versuchen drei Autoren, die doppelte deutsche Nachkriegsgeschichte einzuordnen. Ihre Außensicht vermittelt die englische Professorin Mary Fulbrook, die der Frage nachgeht, ob die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit und „innere Einheit“ einen Widerspruch darstellen. Rolf Wernstedt weist auf Wahrnehmung, Akzeptanz und Vermittlungsprobleme der deutsch-deutschen Geschichte in der Schul- und politischen Bildung hin. Schließlich bilanziert Lutz Niethammer Defizite und künftige Eckpunkte der Geschichtsschreibung der deutschen Nachkriegsentwicklung. Er fordert eine methodische Erweiterung der Zeitgeschichte, plädiert für eine asymmetrische Verflechtung synchroner deutscher Nachkriegsgeschichte in ihrer europäischen Dimension und argumentiert zugunsten einer „wiedergewonnenen Nationalgeschichte der Deutschen“.

Personenregister, Abkürzungsverzeichnis, Angaben zu den Autoren und Herausgebern beschließen den Band. Er ist ein Beitrag zu einer Versachlichung der Debatten um die Geschichte beider deutscher Staaten und regt zum Nachdenken über die wiederholt konstatierte „Vereinigungskrise an. Verständlicherweise kann er nicht alle damit verbundenen Problemfelder der Geschichtsdiskussion abdecken. Hinzunehmen ist so auch, daß die interessante Diskussion der Konferenz nicht dokumentiert werden konnte.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11+12/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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