Eine Rezension von Jürgen Birg


Was ist Zeitgeist?

Gegen den Zeitgeist
Zwei deutsche Staaten in der Geschichte.
Herausgegeben von Gerhard Fischer/Hans-Joachim Krusch/Hans Modrow/Wolfgang Richter/Robert Steigerwald.

GNN Verlag, Schkeuditz 1999, 492 S.

 

Ein erstes Problem ergibt sich bereits aus dem Titel: Nirgends wird umrissen, was unter Zeitgeist verstanden wird und warum gegen diesen angegangen werden soll. Der Leser kann mehr vermuten, als er durch die Herausgeber und Autoren erfährt. Zumindest wird deutlich, daß die Autoren der Beiträge gegen die heute dominierenden, gängigen Deutungen deutscher Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg polemisieren.

Der Band enthält 35 Beiträge nebst einem Geleit von Ernst Engelberg. Die Autoren sind Geisteswissenschaftler und Politiker aus Ost und West, wobei Autoren aus dem Osten überwiegen, die sich dem linken politischen Spektrum verbunden fühlen. Die Beiträge sind chronologisch in drei Teilen angeordnet: 1. Herausbildung von DDR und BRD und ihre Einbindung in gegensätzliche Bündnissysteme, 2. Die Zeit der Existenz zweier deutscher Staaten, 3. Die Jahre nach dem Ende der Zweistaatlichkeit. Enthalten sind sowohl Artikel zu übergreifenden Themen als auch zu Teilabschnitten der Entwicklung in diesen Zeiträumen.

Die Beiträge umspannen Bereiche wie Vorgeschichte, Entwicklung und Entstehung der beiden Staaten, Verfassungs-, Staats- und Rechtssystem, Volkskongreßbewegung, Wirtschaft und Eigentum, Sozialpolitik und Gewerkschaften, Antifaschismus und Rechtsextremismus, Außen- und Deutschlandpolitik, Militärfragen Kinder- und Jugendpolitik, Frauen, Bildung, Wissenschaft und Kultur, Gesundheitswesen, Sport, Wiedervereinigungsproblematik und Probleme des vereinigten Deutschlands.

Als methodologisches Grundproblem erweist sich, daß meist zwar die Entwicklung in Ost und West parallel behandelt wird, aber der notwendige Vergleich fehlt. Die Beiträge bewegen sich auf wissenschaftlich unterschiedlichem Niveau, meist wird unter der Sicht des Autors eine referierende Darlegung des Themas favorisiert. Neue Fragestellungen und Probleme werden kaum gründlich behandelt. Insgesamt geschieht die Analyse der DDR mit ihren Leistungen und Fehlleistungen auf unterschiedliche Weise, manchmal differenziert und kritisch, manchmal apologetisch und verklärend. Die Kritik an der DDR-Entwicklung bleibt somit insgesamt vorsichtig dosiert und zurückhaltend.

Daß bestimmte Themen nicht besetzt werden und inhaltlich Lücken entstehen, kann man (und muß man) hinnehmen. Schwerer wiegt, daß Herausgeber und Autoren ihnen offenbar unangenehme Felder vermeiden. Vermißt werden so Artikel oder weiterführende Darlegungen zur Führungsrolle der SED, zum Problemkreis Volkswirtschaft, Eigentum und Planung, zum Verhältnis von Besatzungsmacht und deutscher Verantwortlichkeit, zur Staatssicherheit (ein heute allerdings oft überstrapaziertes Thema) und Repressionen, zur zunehmend geringer werdenden Akzeptanz des DDR-Gesellschaftssystems und warum der Sozialismusversuch auf deutschem Boden scheiterte. Auch werden archivalische Quellen kaum herangezogen, es dominiert die persönliche Sichtweise, ohne sich quellenkundig abzusichern. Ärgerlich sind die zahlreichen Druckfehler, die bereits beim Inhaltsverzeichnis beginnen.

Allerdings ist es ein Vorzug des Bandes, daß er Verdrängtes und Vergessenes wieder ins Blickfeld rückt. Wie schwierig eine neue Bestimmung des Wegs und Ziels sozialistischer Politik gegenwärtig ist, verdeutlicht der den Band abschließende Beitrag von Harald Neubert und Robert Steigerwald „Für einen anderen Fortschritt, für einen neuen Sozialismus“.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11+12/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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