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Kurt Wernicke

Porträts einer Berliner Geschichtsmeile

 

Seit der Wiedervereinigung Berlins und der Entscheidung des Deutschen Bundestages für Berlin als Regierungssitz erlebt ein altes Genre der Berlin-Literatur eine neue Hoch-Zeit: Die Geschichte einzelner Strassen, Plätze und herausragender Bauwerke hebt sich aus der Flut modisch bedingter Berlin-bezogener Bücher insofern heraus, als bei diesen Publikationen weit weniger Oberflächlichkeit daherkommt als bei den ins Kraut schiessenden Überblicken „Berlin und seine ...“. Das jetzt sich verabschiedende Jahr hat uns wieder - neben vielen kleineren Arbeiten - erfreuliche Zugänge zur stadttopographischen Literatur beschert, u.a. zwei Neuerscheinungen zur Friedrichstrasse und eine Neubearbeitung des gültigen Werks zum Reichstagsgebäude.

Die Friedrichstraße ist in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts durch das Zusammenfallen gravierender geschichtlicher Verläufe zu einem Symbolort von hohem Wert geworden. Im Kalten Krieg geteilt und durch Checkpoint Charlie weltweit bekannt, hat sie nach der deutschen Vereinigung recht schnell die Wandlung zur international renommierten Investitionsmeile durchgemacht - steht jetzt also, ob sie will oder nicht, neben dem Potsdamer Platz als d a s Beispiel für das Aufbautempo Berlins nach dessen Wiedervereinigung. Da ist es kein Wunder, wenn das Fortschreiben einer durch weltpolitische Ereignisse über mehrere Jahrzehnte abgebrochenen Entwicklung des Straßenzuges sowohl das Interesse der neuen Grundstücksinhaber und -betreiber als auch den Ehrgeiz von Historikern weckt, die Vergangenheit einer immerhin mehr als 300 Jahre alten städtischen Adressenkumulation neu ans Licht zu bringen - zumal es in Berlin etliche Straßenzüge gibt, die bereits ihre historiographische Aufarbeitung gefunden haben; es sei nur an den Kurfürstendamm (Regina Stürickow 1995), die Wilhelmstraße (1994) und die Oranienburger Straße (1998, beide von Laurenz Demps) erinnert. Nun sind in kurzem Abstand gleich zwei Titel auf den Büchermarkt gekommen, die die Friedrichstraße zum Inhalt haben. Einer davon - der von Mugay - stellt die Neuauflage eines schon 1990 erschienenen dar: Die Ausgabe von 1990 ist aber so gravierend ergänzt und umgearbeitet worden, daß man ohne Übertreibung von einem neuen Titel sprechen kann.

Mit den intensiv aus den Akten recherchierten Darstellungen des ausgewiesenen Berlin-Historikers Laurenz Demps zum Gendarmenmarkt, zur Wilhelm- und zur Oranienburger Straße können sich beide Titel nicht messen - aber beide Autoren sind ja auch keine Historiker, sondern Journalisten. Das hat den Vorteil, daß sich beide nicht in Details verbeißen, die der Entdeckung einer besonders faktenträchtigen Archivalie geschuldet sind. Sie gewinnen ihre geschichtlichen Fakten aus eigenen Erfahrungen sowie aus Beschreibungen und Skizzen, die ihnen Vorgänger aus der Feuilletonisten- und Journalistenzunft geliefert haben. Beide Bücher sind vor allen Dingen erst einmal hervorragend illustriert, wobei die Abbildungen bei Hoppe gar im Tiefdruck daherkommen und so für eine vorbildlich saubere Reprografie stehen. (Heutzutage, wohl wegen der höheren Druckkosten, keine Selbstverständlichkeit...) So vermitteln beide Bücher recht anschaulich den Flair der Straße im Wandel von der im 18. Jahrhundert geprägten Nüchternheit zur Extravaganz einer Metropolen-Meile, den folgenden Abstieg infolge zweier Weltkriege plus deren Konsequenzen und die Ansätze zu - nicht gerade neuer Blüte, aber immerhin - neuem Aufschwung. Schade nur, daß keine der beiden Publikationen auf das bewegende Foto von Jewgeni Chaldej zurückgreift, das zwei alte Männer im Mai 1945 inmitten der Trümmerwüste Friedrichstraße sitzend festhält; es wäre gut gegen ein Foto zu stellen gewesen, das etwa dieselbe Stelle in der Gegenwart zeigen würde.

Eine Tatsache können allerdings beide Autoren bei allem (sehr profiliert von Mugay dargebotenen) Zukunftsoptimismus nicht wegdiskutieren. In der Beliebtheitsskala der Berliner Einkaufsmeilen liegt die Friedrichstraße auch zehn Jahre nach der Maueröffnung und nach ihrer Wiederherstellung als kompletter Straßenzug erheblich hinter der Tauentzien-, Wilmersdorfer und Schöneberger Hauptstraße zurück (wie es eine statistische Erhebung zum 9. November 1999 jüngst wieder belegt hat). Das dürfte daran liegen, daß eben die vielbeschworene historische Hypothek der zentralen Meile zwischen Oranienburger und Halleschem Tor zugleich ihr Handicap darstellt. Die überkommenen Baufluchtlinien - die so traditionell überkommen sind, daß man noch heute, nach 300 Jahren, die einstige Grenze von Dorotheen- und Friedrichstadt an der Kreuzung Friedrich- und Behrenstraße an der Fahrdammbreite ausmachen kann - verdammen die Friedrichstraße zum Anblick einer Straßenschlucht - und das Einkaufsambiente unserer Zeit ist auf breite Flaniermeilen gerichtet, nach Möglichkeit gar mit einem Mittelstreifen versehen, auf dem Bänke zum Verweilen einladen.

Hoppe geht sein Thema historisch an. Er teilt sein Buch in fünf Kapitel, die sich der Genesis der Straße im 17./18. Jahrhundert, ihrer Entwicklung zur geschätzten Wohngegend im 19. Jahrhundert, dem Klimax ihrer Bedeutung rund um 1900 als Geschäfts- und Amüsiermeile, ihrem Abstieg durch Weltherrschaftsambitionen und dem etwas hektischen, aber hoffnungsvollen Neuanfang nach 1990 widmen. Der Nachzeichnung ihrer Entstehung als einheitlicher Straßenzug mit einheitlichem Namen vom Halleschen zum Oranienburger Tor zwischen den siebziger Jahren des 17. Jahrhunderts und 1786 verdanken wir eine Ergänzung zu Demps’ Darstellung der Entstehung der Oranienburger Straße. Wir erfahren ganz nebenbei von dem „Linden-Markt“, der innerhalb der Spandauer Vorstadt gleich neben dem Oranienburger Tor lag. Dieser schon um 1720 angelegte Markt ist im heutigen Stadtbild noch gut zu erkennen an dem Dreieck, das Oranienburger, August- und Linienstraße bei ihrem Aufeinandertreffen bilden. Der auf dem heute unbezeichneten Platz befindliche Kiosk markiert also den Zentralpunkt des - neben dem Gendarmenmarkt - einzigen noch in der ursprünglichen Anlage erhaltenen der Berliner Märkte des 18.Jahrhunderts. Alle anderen sind entweder verschwunden (wie der Neue und der Werdersche Markt, der Köllnische Fischmarkt und der Dönhoffplatz) oder durch mehrfache Umwandlung „gewandert“ (wie der Alexanderplatz und der Molkenmarkt).

Sicher zu Recht stellt Hoppe als eigentlichen Ausgangspunkt der rasanten Entwicklung zum Vergnügungsboulevard, der der Straße erst internationales (aber ziemlich schillerndes) Renommee verschaffte, die Eröffnung des Bahnhofs Friedrichstraße im Jahre 1882 fest. Der vorher in Kopfbahnhöfen außerhalb der Stadtmitte ankommende Reisende gelangte jetzt unmittelbar in das Stadtzentrum, das sich dann auch sehr schnell auf ihn einstellte. Aber die Woge des Übernachtungs- und Animiergewerbes, der Massentempel zum Bierkonsum und der Revuetheater, Varietés und Kleinkunstbühnen (einschließlich der sich daraus erst allmählich emanzipierenden Lichtspieleinrichtungen) verebbte gen Süden hinter der Kochstraße und ließ die Wohngegendbeschaulichkeit, die dort bis ins letzte Viertel des 19. Jhs. geherrscht hatte, nie ganz aussterben - ein Faktor, der offensichtlich auch noch im Hinterkopf jener Architekten spukte, die die jetzt am Mehringplatz anzutreffende Wohnbebauung in den fünfziger Jahren planten und in den sechziger Jahren realisierten. Beide Autoren, die insbesondere manchen Umgang mit der Straße nach 1990 problematisieren, sprechen leider die auf der Hand liegende Problematik nur sehr zach an, was sich eigentlich der Berliner Senat dabei gedacht hat, ausgerechnet in einer Zeit, in der „Die Mauer muß weg!“ tagtägliches Glaubensbekenntnis zwischen Checkpoint Beta und Checkpoint Charlie, Eiskeller und Hafen Rudow war, die Unterbrechung der seit mehr als 250 Jahren bestehenden direkten Nord-Süd-Trasse Tegel-Tempelhof mittels grünem Licht für den „Mehringhof“ gleichsam als Ergänzung zum mauerumgebenen Checkpoint Charlie zu zementieren. Mugays treffende Überschrift „Baulicher Sündenfall am Belle-Alliance-Platz“ zu dem Kapitel nimmt die berechtigte Abstrafung z.T. durch dessen letzten Satz (S. 37) wieder zurück, der sich so liest, als seien mit dem Urteil nur die Hochhäuser der nächsten Umgebung gemeint.

Manche packende Situation in der Geschichte der Friedrichstraße läßt sich Hoppe ebenso wie Mugay unverständlicherweise entgehen. Dazu gehört ihr Charakter als Via triumphalis für preußisches Militär, wenn es im 18. Jahrhundert aus Kriegen heimkehrte und traditionell durch das Hallesche Tor nach Berlin einmarschierte. (Bis Napoleon 1806 das Brandenburger Tor als prächtigere Szenerie für triumphale Einmärsche entdeckte, was ihm die preussischen Könige dann ab 1814 nachmachten.) Ihren spannungsgeladenen Zustand am Morgen des 4. März 1813, als durch das Oranienburger Tor russische Truppen umjubelt einzogen, während exakt zur selben Zeit am Halleschen Tor die letzten napoleonischen Truppen vor ihrem Abzug ihre letzten versprengten und verspäteten Kameraden aufnahmen, greift nur Mugay auf. Auf das farbenprächtige Bild der durch die Straße defilierenden Fahnenkompanie, die nach der traditionellen Kaiserparade auf dem Tempelhofer Feld die Fahnen der Garderegimenter wieder ins Stadtschloß zurückzubringen pflegte, sind beide Autoren nicht fixiert.

Der 17. Juni 1953 - den Mugay überzeugend im größeren Zusammenhang abhandelt und dabei den hübschen Kunstgriff anwendet, als Kronzeugen für die lange schwelenden Auslösungsmomente ausgerechnet Ulbricht zu zitieren! - findet bei Hoppe sehr plastisch in der südlichen Friedrichstraße, aber eben direkt an der Sektorengrenze statt, während von dem breiten Demonstrationszug der aus Hennigsdorf anmarschierenden Stahlwerker, die die Friedrichstraße in ihrer ganzen Breite auf dem Weg vom Oranienburger Tor bis zur Leipziger Straße ausfüllten, nichts mitgeteilt wird. Sehr vertraut mit jenem Tag scheint Hoppe ohnehin nicht zu sein, denn er setzt das VP-Revier am Potsdamer Platz mit dem Ostberliner Polizeipräsidium gleich und wiederholt unkritisch die Legende von den 41 exekutierten Sowjetarmisten, die Opfer ihrer Solidarität mit den streikenden und demonstrierenden Arbeitern geworden sein sollen. Noch immer wartet man auf eine Bestätigung dieses 1953 von der obskuren „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“ in die Welt gesetzten PR-Gags aus den nun verfügbaren Moskauer Akten! Bei dieser Gelegenheit sei auch einmal das Stereotyp vom Ausgang der Bauarbeiterproteste am 16. Juni 1953 in der Stalinallee richtiggestellt: Der Streik begann am Neubau des Krankenhauses Friedrichshain - nicht in der Stalinallee! (Der Rezensent huldigt übrigens nicht der Illusion, daß das inzwischen eingefleischte Geschichtsbild vom Ausgangspunkt Stalinallee, das wieder und wieder abgeschrieben und beschworen wird, je in Frage gestellt werden könnte - der Mainstream und die Gewohnheit des Abschreibens sorgen schon für den am meisten überzeugenden Blick auf die Geschichte...) Auch entgeht Hoppe nicht der Gefahr der Bedienung modischer Siegereuphorie auf der Gewinnerseite im Kalten Krieg bei der Darstellung der amerikanisch-sowjetischen Konfrontation in der Friedrichstraße im Oktober 1961 (S. 105). Die USA hatten sich in deren Ergebnis keineswegs mit ihrem Anspruch (nämlich, daß sich Zivilangestellte der in West-Berlin stationierten Besatzungstruppen an den Einreisestellen nach Ost-Berlin nicht auszuweisen bräuchten) durchgesetzt - vielmehr wurde die Konfrontation durch direkten Telefon-Kontakt Chruschtschow-Kennedy in Anerkennung gegenseitiger Rechtspositionen beigelegt. Das ist die eigentlich welthistorische Dimension jener Panzer-Muskelspiele, denn genau an das Muster einer Lösung, wie sie im Oktober 1961 erreicht wurde, konnte man sich ein Jahr später bei der Beilegung der Kuba-Raketen-Krise halten. Mugay, der möglicherweise sogar Augenzeuge der Panzer-Konfrontation war und ein differenziertes Bild vom weltweit mit Stirnrunzeln verfolgten Muskelspiel der auf eigene Verantwortung handelnden amerikanischen Berlin-Garnison gewinnen konnte (einer ihrer Zivilangehörigen drang mit einem Jeep doch wirklich ganze 150 Meter in den Sowjetsektor ein, beschützt von acht GI’s in kugelsicheren Westen, die ihn im Laufschritt umgaben - und das sollte demonstrieren, daß die Supermacht USA ihre Interpretation ihrer Rechtsposition durchsetzte!), enthält sich jeden Kommentars zu der Episode und bringt sie nur mit zwei Abbildungen ins Gedächtnis.

Überhaupt liefert Mugay den überzeugenderen - und übrigens auch vergnüglicheren - Ansatz zur Bewältigung des gewählten Themas. Er geht punktuell nach inhaltlichen Markzeichen vor, die er kapitelweise faßt (jedes dieser 40 Kapitel würde sich auch im Feuilleton jeder renommierten Tageszeitung gut ausnehmen) und fast immer an einzelnen Bauwerken bzw. Gebäudegruppen festmacht (zu einigen Häusern werden zudem in Inserts knappe Bau- und Nutzungsgeschichten geliefert). Dazu kommt, daß Mugay gegenüber Hoppe den Vorteil echten Insider-Wissens mitbringt. Sein Arbeitsplatz war ja jahrzentelang in unmittelbarer Nähe der Friedrichstraße, und viele der von ihm beschriebenen Institutionen hat er persönlich nicht nur von außen, sondern auch von innen kennengelernt. Für die Zeit, in der die Friedrichstraße in einem Staat namens DDR lag, kennt er sich in ihrer Baugeschichte, den Befindlichkeiten ihrer Bewohner, der dort Beschäftigten und der übergroßen Mehrheit ihrer Besucher bestens aus - so sind auch gut ausgewogene Urteile verständlich, die wider einstige und immer noch modische Stereotype löcken - z.B. über die „Distel“ und in dem herrlichen Paradestück über das „Lindencorso“. Der Berliner Witz, der natürlich auch im DDR-Berlin blühte, wird hier so wiedergegeben, wie er wirklich war - und nicht so, wie ihn ZK-Agitatoren oder West-Journalisten gern haben wollten bzw. bis auf den heutigen Tag haben wollen. (Der „Aserbeidshanische Hauptbahnhof“ für den neuen Friedrichstadt-Palast war übrigens dem Rezensenten zugegebenermassen gänzlich entfallen...)

Aber auch für die Gegenstände, die er nicht aus eigenem Erleben, sondern aus der Historie aufzuarbeiten hatte, legt Mugay Skizzen vor, die in ihrer Verdichtung nicht nur einmal zum Besten gehören, was der Rezensent zu ihnen bis dato vor Augen bekommen hat - z.B. die Abhandlung über das Central-Hotel und die über den jahrzehntelang beibehaltenen Stellenwert des „Wintergartens“ für eine nicht unwichtige Sparte im internationalen Flair des Berliner Kulturlebens. Glanzstücke sind ebenfalls die launig geschriebenen Feuilletons - pardon, Kapitel über die Operettentheater in der Friedrichstraße und die ebenfalls dort angesiedelten Restaurants von internationalem bis hin zu anrüchigem Ruf. Die Variationsbreite der Art und des Niveaus der in der Straße angesiedelten gastronomischen Einrichtungen ist übrigens keineswegs eine der Geschichte zuzuordnende Erscheinung. Ähnlich wie die „U 1“ in dem bekannten Musical gleichen Namens als verbindende Linie zwischen grundverschiedenen Milieus vorgeführt wird, könnte die Friedrichstrasse - die von einst wie die von heute - als Musicalobjekt dienen, sofern man sich ihren unterschiedlichen Gastronomietempeln in den unterschiedlichen Straßenabschnitten widmen wollte.

Mugay räumt hier und da mit einer festeingefahrenen Legende auf bzw. ist sich nicht zu vornehm, eine Legende auch als solche zu kennzeichnen. Im ersteren Fall beweist er z.B. anhand eines Faksimiles, daß Paul Linckes „Frau Luna“ nicht, wie es - einem Film-Hit mit Paul Kemp und Theo Lingen folgend - als feststehend kolportiert wird, am Silvesterabend 1899 ihre Uraufführung erlebte, sondern am 1. Mai 1899 (S. 165). Im zweiten Fall hält er sich mit der üblichen Weitergabe der unbewiesenen Mär von der Erfindung der Bockwurst (und ihres Namens) zurück und referiert skeptisch: „Wenn die Schlemmerlegende stimmt...“ (S.177) Allerdings sitzt er bei Ernst Zinna und Heinrich (nicht Wilhelm!) Glasewald auf ihrer Barrikade an der Jägerstraße am 18. März 1848 selbst einer Legende auf - einer unmittelbar nach dem Barrikadentag von beflissenen Publizisten gestrickten, die sich bei genauer Betrachtung der Fakten („audiatur et altera pars!“) erheblich vernüchtert. Daß er schließlich dem eifrig um eine Reformer-Legende bemühten, einst so arroganten, dafür jetzt sich in Sack und Asche präsentierenden Ostberliner SED-Chef Schabowski dessen einvernehmlich eskamotierte Rolle bei dem unangemessen brutalen Vorgehen der „Organe“ gegen friedliche Demonstranten am 7. Oktober 1989 unter die Nase reibt, ist mehr als angebracht.

Ganz ohne Fehler geht es auch bei Mugay nicht ab. Kleinere seien nur für eine spätere dritte Auflage angemerkt: S. 46 sind offensichtlich Wilhelm I. und Wilhelm II. verwechselt, S. 89 muß es sicher Admiralsgarten- statt Alexandergartenbad heißen, S. 108 wird im Bild eine andere als die im Text behandelte U-Bahn-Strecke vorgestellt; Kranzler war erst seit 1834 an der bekannten Ecke zu finden: Vorher war er Unter den Linden 22 (S. 116); das Militärblatt (S. 147) heißt richtig „Militärwochenblatt“, S. 193 oben ist Süden zu Norden mutiert, Kleists erste Sprosse in seiner abgebrochenen Militärkarriere schreibt sich „Gefreiter-Korporal“. Aber als gravierender Fehler bietet sich die Feststellung auf S. 85 dar, bei den Oktoberwahlen 1946 sei mit 80,2 Prozent Nicht-SED-Stimmen „ein Erdrutschsieg für die bürgerlichen Parteien“ erzielt worden. Die Berliner SPD von 1946 mit Franz Neumann an der Spitze hätte sich energisch verbeten, als bürgerliche Partei charakterisiert zu werden - zumal in einem Berlin, in dem selbst die CDU ihren Wahlkampf mit einem expliziten Bekenntnis zum Sozialismus (einem „aus christlicher Verantwortung“) bestritten hatte.

Die Schnellebigkeit der Zeit, gerade in solchen „Entwicklungsgebieten“ wie der Friedrichstraße, macht in Büchern getroffene Aussagen nicht selten bald obsolet. Während Mugay in seinem 1998 abgeschlossenen Manuskript noch das „Haus der Demokratie“ als existent und die Arno-Mohrsche Gedenktafel für Ernst Zinna als nicht-existent behandelte, konnte einerseits Hoppe bereits darüber sinnieren, ob die Institution „Haus der Demokratie“ an ihrem neuen Standort in der Greifswalder Str. 4 wohl den alten Stellenwert bewahren könne; vermag andererseits der Rezensent die Wiederanbringung der Zinna-Tafel in der Jägerstraße (wenn auch 60 Meter vom Standort der Barrikade entfernt) zu vermelden. Als neueste Umbauleistung in der Friedrichstraße ist gegen Jahresende 1999 die Entkernung des Bürohauses (einstige Bierschwemme) Friedrichstr. 171 und der Abriß des noch von Mugay liebevoll erwähnten Geschäftshauses Nr. 169/170 (1937 für die Reichsbahn-Kredit-Gesellschaft errichtet, zu DDR-Zeiten Sitz des Schriftstellerverbandes) anzumerken. Wird zum Zeitpunkt des Erscheinens dieser Besprechung evtl. das Glasscheiben-Debakel der „Galeries Lafayette“ endgültig der Vergangenheit angehören?

Auf alle Fälle legt man beide Monographien aus der Hand mit dem Gefühl, daß die Friedrichstraße, unter welchen Richtungsbefehlen, Modetrends und Schicksalsschlägen auch immer, in hervorragender Weise das Schicksal Berlins reflektiert, das von Karl Scheffler zu Beginn des 20. Jahrhunderts dahingehend charakterisiert wurde, ihm sei bestimmt, „immerfort zu werden und niemals zu sein“.

Die Nachzeichnung der Geschichte eines Berliner Symbolgebäudes, das schon vor seinem Erstehen im Bewußtsein der agierenden Zeitgenossen mit der Rolle Berlins als Hauptstadt zu identifizieren war und dann im Auf und Ab seiner Geschichte nicht nur Ort politischen Gestaltungswillens war, sondern selbst im Spannungsbogen zwischen Werden und Sein wiederholt Objekt solchen Gestaltungswillens wurde, liegt uns jetzt in einer neuen und ergänzten Gestalt vor. Pünktlich zur Arbeitsaufnahme des Deutschen Bundestages im Berliner Reichstagsgebäude im September 1999 ist in aktualisierter Version das von Michael S. Cullen zuerst 1983 publizierte, 1990 in einer unveränderten Nachauflage erschienene und 1995 in einer - in den Grundzügen mit dem hier Vorliegenden übereinstimmenden - erweiterten Version vorgestellte Werk auf den Büchermarkt gekommen, das man inzwischen ohne Übertreibung zu dem Standardwerk über die Baugeschichte des Reichstags erklären muß. Daß der Verlag eine populäre Kurzfassung herausgebracht hat (vgl. Besprechung in Berlinische Monatsschrift 12/1999), die für Otto Normalbesucher des Gebäudes gedacht und auf seinen Geldbeutel zugeschnitten ist, mag zu Verwechslungen führen, muß aber hingenommen werden. Auch Otto Normalbesucher wird damit vielleicht veranlaßt, beim Wunsch nach tieferlotenden Informationen auch tiefer in die Tasche zu fassen und zum hier Vorliegenden zu greifen. Einen schlechten Griff würde er damit nicht tun.

Denn Cullens Baugeschichte des Reichstagsgebäudes zeichnet in streng wissenschaftlicher Weise auf - man muß schon sagen - breitester Quellengrundlage von Akten, gedruckten Protokollen, Aufsätzen und Essays die Historie eines Bauwerks nach, das durch den Lauf der deutschen Geschichte in seltener Art Höhen und Tiefen, Aktiva und Passiva (weniger Aktiva als Passiva!) von Politik und Parlamentarismus in unserem Lande repräsentiert. Das beginnt schon mit dem Rückgriff auf die Vorgeschichte von Institution wie Bauwerk, in der sich der qualvolle Weg einer Durchsetzung des Grundanliegens der deutschen Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts zwischen einer mißlungenen Revolution von unten (1848/49) und einer mittels gehöriger Schlitzohrigkeit gelungenen Revolution von oben (1866-1871) recht treffend widerspiegelt. Dabei ist zu bedauern, daß sich die gedanklichen Aspekte zur Namensgebung für die das Gebäude nutzenden Institutionen Reichstag und Bundesrat nur (S. 331, Anm. 49) in einer Anmerkung wiederfinden - sagt doch schon die unterschiedliche Benennung (Reichs-Tag, aber Bundes-Rat; mit dem „Reich“ wurde die Nationalbewegung und ihre Erinnerung an 1848, mit dem „Bund“ die Befindlichkeit der beitretenden Einzelstaaten bedient...) viel aus über den dornenreichen Weg aus der deutschen Mehr-Staatlichkeit zur Nationalstaatlichkeit. Einem Amerikaner (Cullen ist Amerikaner, 1939 in New York geboren) mag aus der gänzlich anderen Geschichtslinie des amerikanischen Föderalismus, bei dem der Zusammenschlußgedanke ausdrücklich von unten kam, die Rücksichtnahme auf solche Befindlichkeiten als Quantité négligeable erscheinen - in Deutschland hat gerade das letzte Jahrzehnt die Befindlichkeiten in bezug auf die Sentiments von Beitretenden erheblich geschärft.

Die Odyssee der Institution Reichstag als eine der - ursprünglich nur fünf - obersten Reichsrepräsentanten (Kaiser, Kanzler, Parlament, Bundesrat, Gericht) durch etliche Gebäude bis zum eigenen Bauwerk und den beschwerlichen Weg dahin zeichnet Cullen im Prolog und zehn Kapiteln detailliert nach. Dem dabei, manchmal auch nicht ohne Humor, mitgeteilten Hickhack entspricht seine Schilderung der Umschiffung unsäglicher Klippen in den beiden letzten Kapiteln „Das Reichstagsgebäude nach 1945“ und „Der Reichstag im wiedervereinten Deutschland“. Da blitzt oft genug Sarkasmus durch, wenn der Autor gerade in diesen beiden Kapiteln das ständige Verschieben von Entscheidungen und das Ringen um Kleinkram anhand ihm zugänglicher Niederschriften zu beschreiben unternimmt. (Die Akten sind nämlich zu seinem Bedauern zumeist nicht zugänglich, weil das bundesdeutsche Archivgesetz lange Schonfristen vor die Zugänglichkeit setzt - da hätte er es mit jedem beliebigen DDR-Bauwerk erheblich leichter gehabt, denn für DDR-Archivalien gilt bekanntlich die Sperrfrist nicht, die Mißbrauch gegenüber Lebenden verhindern soll!) Mit Interesse nimmt man zur Kenntnis, daß vor der Auslobung des ersten Wettbewerbs im Jahre 1872 insgesamt acht Standorte in der Diskussion waren, bei denen der später gewählte nur an achter Stelle stand. Fünf dieser acht möglichen Standorte lagen innerhalb der erst 1867 abgerissenen alten Zoll- und Akzisemauer, waren also im Empfinden der Zeitgenossen eigentlich „innerstädtisch“ - die drei anderen eben nicht. Mit der Wahl der Ostseite des Königsplatzes war eine - vielleicht so nicht beabsichtigte - Abkehr von der historischen Mitte Berlins verbunden. Der entsprechende Reichstagsausschuß mag dabei durchaus von dem nie offen ausgesprochenen Gedanken geleitet gewesen sein, ein Pendant zum Stadtschloß zu schaffen - und das machte sich am westlichen Ende des Linden-Boulevards natürlich besser als anderswo; außerdem war man offenbar auf die schon mit ihren diversen Grundsteinen örtlich genau fixierte Siegessäule ausgerichtet - schließlich sollte ja das Geld für den pompösen Neubau aus den siegreich eingestrichenen französischen Milliarden kommen! Aber dieser Standort implizierte sogleich den Nachteil, daß sich die Schau-Seite des neuen Prachtgebäudes von Kern-Berlin abwandte und eigentlich den fürstlichen Hochmut des Stadtschlosses kopierte, den Berlinern nur seine Rückseite darzubieten. Allein der Berliner Fortschrittspartei-Abgeordnete Franz Duncker brachte die Nordseite des Königsplatzes als Baugrund in Vorschlag, womit die angesprochene Konsequenz umgangen worden wäre - aber er setzte sich nicht durch. Die Plazierung des 1901 enthüllten Bismarck-Denkmals von Reinhold Begas mit der Sicht des Reichsgründers auf die Siegessäule brachte dann den zusätzlichen Affront, daß nun seinerseits Bismarck dem Domizil seiner Schöpfung Reichstag den Rücken zuwandte...

Herzerfrischend zeichnet Cullen nach, welche unterschwelligen Konkurrenz- und Neidgefühle bei den Entscheidungen für den 1. Preisträger im ersten Wettbewerb von 1872 (Ludwig Bohnstedt) und im zweiten Wettbewerb von 1882 (Paul Wallot) mitspielten. Besonders erheiternd liest sich (S. 69 f.), daß 1882 ein Entwurf ausgeschlossen wurde, weil er an einer bestimmten Vorgabe vorbei geplant hatte, daß aber gerade dieses Detail (die Auffahrrampe) später von Wallot auf Wunsch des Kaisers hinzugefügt wurde - so sieht es mit Gewißheit auch oft genug bei heutigen Konkurrenzen aus, und Cullens Darlegung der Querelen, denen sich Norman Foster hinsichtlich der wechselnden Standpunkte zu der bzw. Anforderungen an die Reichstagskuppel ausgesetzt sah, schließt den Kreis in die Gegenwart überzeugend (S. 302 ff.). Für Wilhelm II. war schon die Wallot-Kuppel „der Gipfel der Geschmacklosigkeit“; aber warum eigentlich? Nun, sie war 5 Meter höher als die Kuppel auf dem Hohenzollernschloß! Dafür fehlte bei der Einweihung des Baus im Dezember 1894 auf Veranlassung Wilhelms II. die noch 1893 von Wallot bestimmte Inschrift „Dem deutschen Volke“; wer im wilhelminischen Kaiserreich anstelle des Volkes das Sagen haben sollte, demonstrierte bei der Schlußsteinzeremonie am 5. Dezember 1894 (eigentlich war „Plantermin“ schon 1892 gewesen) der Reichstagspräsident Albert v. Levetzow, der als künftiger Hausherr es sich nicht nehmen ließ, angesichts des Übermaßes an militärischen Repräsentanten bei dem Festakt ebenfalls in Uniform zu erscheinen, nämlich in der - weiter hatte es der Jurist nicht gebracht - eines Majors der Landwehr. Verdienstvoll ist Cullens eindeutige, aus den Akten geschöpfte Widerlegung der von Peter Behrens kolportierten Behauptung, er - der Designer der Lettern für die Inschrift „Dem deutschen Volke“ - habe seinen Auftrag dafür schon 1908 erhalten. Wäre das der Fall gewesen, so hätte die naheliegende Erklärung, daß erst der Weltkrieg Seine Majestät moralisch zum Nachgeben zwang, ihre Logik verloren. Daß die Zustimmung Wilhelms II. zum Vorschlag der endlichen Anbringung „zähneknirschend“ (S. 184) erfolgt sei, wird aber eine freie Interpretation des Autors sein - Akten sieht man kaum an, ob jemand bei ihrer Abfassung bzw. Anlegung mit den Zähnen geknirscht hat. Um beim Äusseren des Baus zu bleiben: Daß Cullen als der Ideengeber für die Verhüllung des Reichstags durch die Verpackungskünstler Christo und Jeanne-Claude Jawatscheff sich und das Ehepaar in einem eigenen Kapitel feiert, ist ihm zu gönnen. Die hochgestochen-verquasten Begründungen, die im Bundestag für die Zustimmung zum Projekt aufgetischt wurden, erspart er uns Gott sei Dank.

Nicht ohne Humor werden die Auseinandersetzungen um die Ausgestaltung des Gebäudes mit Werken der Kunst vorgeführt - sowohl in dem eigens diesem Thema gewidmeten Kapitel für die Zeit von 1888 bis 1908 als auch bei der kurzen Abschweifung dazu im letzten Kapitel, wo der Autor sich (S. 327) sarkastisch zu dem Geschwafel um die Entscheidung für die Einladung an Bernhard Heisig ausläßt: Um ihn habe es kulturpolitischen Hickhack gegeben, „weil er nicht der künstlerischen Dissidentenweihe nonkonformer DDR-Kunst für würdig befunden wurde“. Mit viel Lob muß bedacht werden, daß Cullen in dem Unterabschnitt „Männer vom Bau“ (S. 146 f.) auch auf die Arbeitsbedingungen und die Entlohnung der Bauhandwerker eingeht, die das Gebäude mit ihren Händen errichteten. So erfahren wir u.a., daß immerhin 14 Arbeiter während der Bauphase am Reichstag tödlich verunglückten und solche, denen man politische Unzuverlässigkeit attestierte, im wilhelminischen Rechtsstaat rund um die Uhr bespitzelt wurden. Das Wissen um die Tatsache, daß das imposante Bauwerk Menschenopfer verschlang, wird noch ergänzt durch den Fakt, daß auch der demokratisch-republikanische Einstand des Reichstagsgebäudes reichlich mit Blut getränkt war: Cullen geht etwas elegant über den 13. Januar 1920 hinweg, benennt aber wenigstens die Zahl von 42 Toten, die an diesem Tag vor oder in dem Haus in ihrem Blute lagen (S. 219); Fakt ist, daß das Reichstagspräsidium den berüchtigten Chef des Reichswehr-Gruppenkommandos I, Lüttwitz (Jawohl! Den, der zwei Monate später den Reichstag zum Teufel schicken wollte - woran ihn und seinen Kumpanen Kapp nur ein Generalstreik hinderte), bevollmächtigt hatte, notfalls mit Maschinengewehren in die gegen das Betriebsrätegesetz protestierende Demonstration schießen zu lassen - was er dann auch pflichtgemäß tat, nachdem der bei Provokationen so beliebte „erste Schuß“ gefallen war. Dass sich Cullen zum Thema „Schuldige am Reichstagsbrand“ nicht eindeutig festlegt, ist allerdings nur zu begrüssen, denn der Streit der Historiker über Hintermänner oder blosse entschlossene Nutznießer des Vorfalls ist tatsächlich nicht zugunsten einer Seite entschieden - so sehr man sich im Hinblick auf die später notorische Skrupellosigkeit der Nazis - man denke an Gleiwitz! - der einen Seite auch gern anschließen möchte. Ebenso ist zu begrüßen, daß er auf die nachträglich von Philipp Scheidemann erfundene Motivation für die Ausrufung der Republik verzichtet (er habe die Republik ausgerufen, um Liebknechts Ausrufung einer Sowjet-Republik zuvorzukommen!), mit der Scheidemann 1928 das deutsche Volk nicht nur in seinen Memoiren, sondern sogar mittels Schallplatte beglückte.

Angesichts des stetig wiederholten Ankreidens des Abrisses des Berliner Stadtschlosses durch die Grotewohl-Regierung entnimmt man Cullens Untersuchung mit geschärften Sinnen, daß es immerhin der aufgrund der Oktoberwahlen von 1946 freigewählte Berliner Magistrat mit seiner bestimmenden SPD-CDU-Mehrheit war, der 1947 den Abriß des Reichstagsgebäudes beschloß (S. 255) und einen detaillierten Abrißplan ausarbeitete (S. 258 ff.). Nachgeborene haben es leicht, das nach 1945 parteienübergreifend weitverbreitete Verlangen nach abrupter Trennung vom Preußen- und Hohenzollerntum - das sich u.a. durch deutschlandweite Infragestellung von Berlins Hauptstadtrolle und durch Denkmalsstürmerei ausdrückte - nicht zur Kenntnis zu nehmen und aus späterer Sicht Zensuren zu verteilen. Wer von diesen mit Steinen zu werfen pflegt, muß sich allerdings auch gefallen lassen, daß an das Jagdschloss Dreilinden des Prinzen Karl Friedrich und an „Meyer’s Hof“ erinnert wird...

Einblicke vermittelt der Autor dankenswerterweise auch in den Stellenwert des Reichstagsgebäudes als Ort mehr oder weniger historisch bedeutender Zäsuren. Wie es nicht anders sein kann, bleiben für den Rezensenten jedoch einige Wünsche unerfüllt. So ist zwar (S. 180) des 27. Novembers 1902 gedacht, dieses schwarzen Tages des deutschen Parlamentarismus, als eine arrogante Mehrheit die sakrosankte Geschäftsordnung einfach außer Kraft setzte, um die (damals sozialdemokratische) Opposition mundtot zu machen. Aber der Tag wird nicht eingeschätzt als der Geburtstag eines Verfahrens, das seit dem Tabubruch von jenem Tage Einzug in die deutsche parlamentarische Praxis gefunden hat und gerade in der Gegenwart - übrigens mittels der famosen „Zählgemeinschaften“ in wachsender Zahl auch bei den Erben jener, die am 27. November 1902 betroffen waren - fröhliche Urständ feiert. Als Manko empfindet es der Rezensent auch, dass nicht des 18. Novembers 1919 gedacht wird, als ein mehr als arroganter Hindenburg im Reichstagsgebäude vor einem Untersuchungsausschuß der Nationalversammlung auftrat und unwidersprochen der lügnerischen Dolchstoß-Legende, die bis dato nur inoffiziell zirkuliert hatte, nun die offizielle Weihe gab. Schmunzelnd genießt man (S. 195 ff.) den von Cullen ausgegrabenen Tucholsky-Artikel in der „Weltbühne“ vom 22. Februar 1927 über die Zulassung dieser Wochenschrift zum Reichstag, der so recht charakterisiert, wie Macht und das Bewußtsein der Macht geeignet sind, auch den Charakter eines Reichstagspräsidenten zu verderben, der der SPD angehört. Der hübsche Seitenhieb gegen die heutzutage übliche Vereinnahmung Tucholskys wäre noch ausbaufähig gewesen durch die Mitteilung der zeremoniellen Aufbahrung des (seit 1955) Berliner Ehrenbürgers Paul Löbe im provisorisch wiederhergestellten (Baumgarten-)Reichstag nach seinem Tode 1967. Bei der Darlegung des Wiederaufbaus des Plenarsaals im Zuge der Baumgarten-Rekonstruktion wird leider eine hübsche Tatsache links liegengelassen, die das Wegschieben finanzieller Überlegungen bei Entscheidungen von politischem Symbolwert demonstriert. Nach der Plenartagung des Bundestags in der Kongreßhalle am 7. April 1965 gegen den wütenden Widerstand der Sowjets waren auch die Alliierten nicht länger gewillt, Bonner Muskelspiele so dicht an der „Mauer“ hinzunehmen - und die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung fand dann 1969 auch wieder traditionell auf dem Messegelände am Funkturm statt. Ungeachtet dessen wurde erst nach 1965 an einem neuen Plenarsaal gewirkt - einer Räumlichkeit, die dann tatsächlich einmal ihrem gedachten Zweck diente, nämlich bei der Tagung des erweiterten Bundestages am 4./5. Oktober 1990. Diese Tagung und die damit verbundene Ratifizierung des „2 plus 4“-Vertrages fehlt auch bei Cullen, dabei wurden doch mit ihr mehr als 40Jahre lauthals verkündeter illusionärer bundesdeutscher Wunschpolitik hinsichtlich angeblich noch möglicher Revision der 1945 festgelegten deutschen Ostgrenzen durch einfaches Handheben ad acta gelegt; man müßte ja nicht unbedingt darüber hinaus noch fragen, wo denn die Entschuldigung vor jenen Millionen Gutgläubigen blieb, die jahrzehntelang den Beteuerungen der Politiker auf mögliche Revision der deutsch-polnischen Grenze in einem Friedensvertrag mit einem in Freiheit vereinten Deutschland gelauscht und vertraut hatten.

Ein ausgezeichneter Anhang zum eigentlichen Text rundet mit Biographien, der Dokumentation der Wettbewerbe von 1872, 1882 und 1927, der Kostenaufstellung für die Fertigung des Gebäudes, einer präzisen Auflistung aller an der Bauausführung Beteiligten und einer ausführlichen Bibliographie das Ganze ab.

Leider ist Cullen in der preußischen und deutschen Geschichte nicht so sattelfest wie in der des Reichstagsgebäudes. Etliche vermeidbare Fehler sind die Folge. So trat der Deutsche Zollverein nicht 1831 ins Leben (S. 20), sondern 1834; das Großherzogtum Luxemburg stand keineswegs unter der Aufsicht des deutschen Kaisers (S.13), sondern war ab 1867 neutral und souverän. Preußen war nach 1815 nicht in 14 Provinzen eingeteilt (S. 15), sondern in zehn, ab 1822 in neun und ab 1828 in acht; Berlin hatte um 1740 nicht rd. 100000 Einwohner (S. 16), sondern rd. 80000 (die 100000 Grenze incl. Militär wurde erst 1750 überschritten); das 1854 eingeführte Herrenhaus mit den auf Lebenszeit ernannten Mitgliedern war keineswegs in der „oktroyierten“ Verfassung vom Dezember 1848 verankert (S. 17) - derzufolge die Erste Kammer nach einem Vermögenszensus gewählt wurde -, sondern gerade in deren willkürlicher „Weiterentwicklung“ durch die Verfassung von 1850 und den Willkürakt von 1854; nicht im Frühjahr 1848 (ebd.) erfolgte der Umbau des Schauspielhauses zum Parlamentsdomizil, sondern erst im August/September. In den ersten Wochen ihres Aufenthalts in der Singakademie ging die Preußische Konstituierende Versammlung noch davon aus, daß ihr ein eigenes Haus errichtet würde, und setzte dafür sogar einen eigenen Ausschuß ein; die Königliche Porzellan-Manufaktur ist nicht (S. 20) 1863 an die Mündung des Schafgrabens in die Spree (fälschlich zu Moabit gerechnet - aber nicht nur von Cullen!) verlegt worden, sondern sukzessive ab 1868; der frischgekürte Kaiser Wilhelm konnte schwerlich einen Brief von Bismarck „aus der Wilhelmstraße“ (S. 21) erhalten, denn Bismarck befand sich im Januar 1871 nicht in Berlin, sondern, wie der Kaiser, vor dem belagerten Paris. Die Kaserne vor dem Brandenburger Tor wurde ab 1764 (nicht 1767) errichtet, und das Regiment hieß keineswegs Prinz Friedrich (auch wenn Berlin und seine Bauten das 1874 behauptet) sondern Herzog von Braunschweig; die Hermann-Göring-Straße hieß keineswegs (S. 253) später Sommer- und heute Ebertstraße. Die Kasernenstraße war 1859 nach dem Kommunalpolitiker Sommer benannt und nach Friedrich Eberts Tod 1925 nach diesem umbenannt worden, erhielt dann in der NS-Zeit Görings Namen und wurde inoffiziell 1945, offiziell 1947 in Ebertstraße rückbenannt; die Provinziallandtage wurden nicht durch die Bundesakte von 1815 eingerichtet (S. 331, Anm. 15), sondern ganz im Gegenteil in Verletzung der Bundesakte: Diese hatte in Artikel 13 Landstände für den jeweiligen Gesamtstaat festgeschrieben. Das Schicksal der preußischen Provinziallandtage zwischen 1848 und 1875 (wozu auch die vom Autor bemerkte Neuschaffung des Provinziallandtags in Danzig gehört, der aus der mit dem Inkrafttreten der Provinzialordnung von 1875 vollzogenen Trennung der Provinz Preußen in Ost- und Westpreußen im Jahre 1878 resultierte) ist allerdings so verwirrend, daß man es Cullen verzeihen kann, wenn ihm auf diesem Gebiet der Durchblick fehlt - aber immerhin: „Si tacuisses...“

Solche Lapsus mindern jedoch nicht den Gesamtwert des Werkes, dem weitere Auflagen - möglicherweise wiederum neubearbeitet und ergänzt - zu gönnen sind. Dann könnte aber die obsolete Ortsangabe Merseburg bei Belegen aus Akten des Geheimen Staatsarchivs/PK getilgt werden.

Lediglich des Mitschwimmens auf der Woge stadttopographischer Literatur verdankt ein Überblick über in Berlin und von Berlin aus betriebener Diplomatie seinen irreführenden Titel Zwischen Wilhelmstrasse und Bellevue: Der Titel soll offenbar suggerieren, dass er das Bedürfnis nach Information über eine innerstädtische Geschichtslandschaft bedient, in der aussenpolitische Aktivitäten abgelaufen sind. Zugunsten der Herausgeber und Verfasser möchte man annehmen, dass der Haupttitel auf gleiche Art über das Buch gekommen ist, wie vor 135 Jahren das ominöse Vom Fischerdorf zur Weltstadt über Adolf Streckfuß’ Standardwerk zu 500 Jahre Berliner Geschichte. Damals hatte der Verleger Jonas den reißerischen Titel erfunden, obwohl im Text das Wort Fischerdorf nur in einer distanzierenden Anmerkung des Verfassers vorkam - diesmal ist zu vermuten, daß der Henschel Verlag darauf verfallen ist, das nur zweimal erwähnte (weil 1938 beim Besuch des jugoslawischen Regenten und 1940 beim Molotowbesuch der Reichsregierung als Gästehaus dienende) Schloß Bellevue in den Titel einzuführen, um dem Käufer vorzumachen, es handle sich um die Darstellung einer innerstädtischen Geschichtslandschaft, die eng mit aussenpolitischen Geschehnissen verknüpft ist. Dem ist bei weitem nicht so - es handelt sich hier vielmehr um die in Maßen nützliche Kompilation der Geschichte auswärtiger Vertretungen in der Residenz bzw. Hauptstadt Berlin (selbst der DDR-Hauptstadt), verbunden mit einigen Exkursen zu diplomatischen Konfliktsituationen. Im wesentlichen wird dabei über Gebäude der Wilhelmstraße aufgeklärt, die von ihrer Bestimmung her Schauplatz diplomatischer Aktivitäten waren - nicht ohne hier und da einen Fehler einzuflechten (so ist mitnichten, wie S. 63 behauptet, das Reichskanzleramt 1879 zum Reichsamt des Inneren mutiert - das letztere war durchaus eine Behörde sui generis). Insofern kann man den Titel als eine nützliche Ergänzung zu Demps’ Monographie über die Wilhelmstraße ansehen und ihn damit in den Umkreis stadttopographischer Literatur einreihen. Den Rezensenten erinnert die mit nicht unflott geschriebenen Zwischentexten zusammengehaltene Textkompilation an die einige Zeit in der DDR nach Sowjetmuster gebräuchlichen „Chrestomathien“; ihre Herkunft aus dem Otto-Suhr-Institut der FU (der Nachfolge-Institution der Hochschule für Politik) trägt noch zusätzlich dazu bei.

Ralph Hoppe:
Die Friedrichstrasse. Pflaster der Extreme
be.bra verlag, Berlin 1999, 135 S.

Peter Mugay:
Die Friedrichstrasse. Im Wandel der Zeiten
2., völlig neu bearbeitete Auflage.
Edition Preußische Gesellschaft Berlin-Brandenburg, o.J. (1999), 256 S.


Michael S. Cullen: Der Reichstag. Parlament, Denkmal, Symbol
2. vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage.
be.bra verlag, Berlin 1999, 407 S.

Bernd Fischer (Hrsg.)/Anja Knott/Enrico Seewald:
Zwischen Wilhelmstraße und Bellevue. 500 Jahre Diplomatie in Berlin
Mit Beiträgen von Olaf Böhnke, Matthias Dörnfeldt, Astrid Pusch, Nicola Dolores Schmidt, Tobias Teuscher.
Henschel Verlag, Berlin 1998, 288 S.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11+12/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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