Eine Rezension von Horst Wagner


Erinnerungen an das „zweite Leben“

Fritz Selbmann: Acht Jahre und ein Tag
Bilder aus den Gründerjahren der DDR.

Verlag Neues Leben, Berlin 1999, 319 S.

 

Fritz Selbmann (1899-1975) habe oft davon gesprochen, so sein Sohn Erich im Nachwort, daß er eigentlich mehrere Leben gelebt habe. Das erste als KPD-Funktionär vor 1933 und als Häftling während der 12jährigen Nazi-Herrschaft. Ein zweites als ostdeutscher Spitzenpolitiker von 1945-1958. Das dritte als Schriftsteller, nachdem er bei Ulbricht in Ungnade gefallen und nach und nach von allen staatlichen Funktionen abgelöst worden war. Über das erste Leben hat er in seinem 1969 erschienenen Erinnerungsband Alternative, Bilanz, Credo berichtet. Aus seinem dritten kennen wir Romane wie Die Heimkehr des Joachim Ott, Ein Mann und sein Schatten (beide 1962), Die Söhne der Wölfe (1964) und Der Mitläufer (1972). Nun endlich, kurz vor seinem 100. Geburtstag, sind die Erinnerungen an die wichtigsten Jahre seines „zweiten Lebens“ herausgekommen. Er hatte sie bereits Anfang der 70er Jahre niedergeschrieben. Sie durften aber damals nicht erscheinen, offenbar wegen der zu dieser Zeit für Funktionäre und für Geschichtsdarstellungen ungewöhnlich offenen Sprache und unverblümter Darstellungsweise.

Mit den acht Jahren ist die Zeit von 1945 bis 1952 gemeint, mit dem einen Tag der 17. Juni 1953 (einschließlich des Tages davor und der Wochen danach). Bilder im literarischen Sinne sind die Erinnerungen eigentlich nicht. Manchem Leser wird vielleicht nicht gefallen, daß sie so viele Zahlen enthalten und immer wieder Reden und Aufsätze Selbmanns aus der damaligen Zeit eingestreut sind. Aber neben der schon erwähnten Direktheit und der auf Allgemeinplätze verzichtenden Sprache bieten auch die Reden Selbmanns durchaus interessante, sonst schwer zu erschließende Einblicke in die Schwierigkeiten des wirtschaftlichen Neubeginns in Ostdeutschland und in die Härte der Auseinandersetzungen um die politisch einzuschlagenden Wege. Selbmann war einer der Initiatoren des Volksentscheides in Sachsen zur Enteignung der Kriegs- und Naziverbrecher. Er war als sächsischer Wirtschaftsminister verantwortlich für die erste Leipziger Nachkriegsmesse im Mai 1946. Dramatisch lesen sich seine Schilderungen über den (bis zur Einführung der Todesstrafe gehenden) Kampf gegen Schieber und Spekulanten. Interessant die Darlegungen über die ersten Formen landes- bzw. volkseigener Betriebe. Bedauerlich - aus heutiger Sicht - der Mangel an Überlegungen, wie sich dabei ein wirkliches Eigentümerbewußtsein der Produzenten entwickeln könnte. Bisher nirgends so beschrieben die Diskussionen, die dem Bau des Eisenhüttenkombinates an der Oder vorausgingen (ursprünglich war an einen Standort bei Magdeburg oder an der Ostseeküste gedacht), und die Beweggründe für solche Großobjekte wie die mit Niederschachtöfen betriebenen Eisenwerke in Calbe und die Großkokerei Lauchhammer, an deren Entwicklung Selbmann maßgeblichen Anteil hatte.

Höhepunkt des Buches sind zweifellos die Schilderungen Selbmanns über die Ereignisse um den 17. Juni 1953. Er sieht sie zwar in erster Linie als einen im wesentlichen vom Westen initiierten „Versuch ... auf dem Territorium der DDR wieder die alten kapitalistische Klassen- und Machtverhältnisse herzustellen“. Er räumt aber auch ein, daß infolge fehlerhafter Maßnahmen der Regierung (gegen die er sich zum Teil gewandt habe) „unter den Massen der Arbeiter Unzufriedenheit herrschte“ und „die Partei vielerorts über die wirkliche Stimmung falsch unterrichtet war“. Jedenfalls geht aus seinen Schilderungen hervor, daß Fritz Selbmann damals als einziger unter den Spitzenfunktionären der DDR den Mut hatte, vor dem Haus der Ministerien in der Leipziger Straße zu den aufständischen Arbeitern zu sprechen. Für die meisten Leser dürfte neu sein, daß es vier Wochen nach dem 17.Juni zu ähnlichem Aufbegehren in den Buna-Werken in Schkopau kam, wobei Selbmann auch hier von Ulbricht in die „Feuerlinie“ geschickt wurde.

Sicherlich haben gerade diese Schilderungen dazu beigetragen, daß das Buch zu Fritz Selbmanns Lebzeiten nicht erscheinen durfte. Es ist neben seinem Sohn Erich Selbmann, einem zu DDR-Zeiten sehr bekannten Rundfunk- und Fernsehjournalisten, vor allem dem Verlag Neues Leben zu danken, daß über 25 Jahre nach dem ersten erfolglosen Versuch diese Erinnerungen doch noch veröffentlicht werden konnten, wobei - wie versichert wird - an dem ursprünglichen Text kein Wort verändert wurde. Ändern bzw. beseitigen sollte man aber - falls es nicht inzwischen geschehen ist - einen peinlichen Fehler: Ist doch die als Klappentext gedruckte Kurzbiographie des Autors mit Erich statt Fritz Selbmann überschrieben.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11+12/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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