Eine Rezension von Heinrich Buchholzer


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Man darf sich seinen Teil denken

 

Cay Rademacher: Geheimsache Estonia

nymphenburger, München 1999, 350 S.

 

Estonia ist der wirkliche Name eines großen Fährschiffs. Es ging tatsächlich in der Nacht vom 27. zum 28. September 1994 während eines schweren Sturms unter, in der Ostsee zwischen dem estnischen Hafen Tallinn und dem schwedischen Hafen Stockholm. Mehr als 850 Passagiere und Mannschaften starben. All dies gehört zu den gesicherten Fakten, auf denen Cay Rademacher, studierter Historiker und praktizierender Wissenschaftsjournalist des Jahrgangs 1965, seine Geschichte aufbaut.

Die größte Schiffskatastrophe im Baltischen Meer zu Friedenszeiten ist, so der amtliche Untersuchungsbericht, auf technisches Versagen zurückzuführen, die auf das Autodeck führende Bugklappe hat den Kräften der tobenden See nicht standgehalten. Da das große Fährschiff - vermutlich für immer - im tiefen Meer liegt, konnte der Schaden nicht so untersucht werden, daß jeder Zweifel am vermutlichen Hergang und jede Möglichkeit einer Fremdeinwirkung auszuschließen sind.

Hiervon ausgehend, erlaubt sich der Autor ein erhebliches Maß an schriftstellerischer Freiheit. Es steht ihm zweifellos zu, zumal er nicht behauptet, einen Tatsachenbericht - vielleicht mit Elementen freier Rekonstruktion - vorzulegen. Er hält sich in diesem Punkt bedeckt, legt sich auch nicht mit einem Vorwort fest, um etwa zu erklären oder anzudeuten, was in den 18 Kapiteln des Buches erfunden ist und wie weit er Tatsachen mitteilt. Statt sich in die Fallstricke eines solchen Vorworts zu begeben und den Leser zu desillusionieren, ihm reinen Wein einzuschenken, daß alles erfunden ist, stellt er dem Text lediglich zwei geheimnisvolle Sätze voran: „Tickt eine Zeitbombe in der Tiefe der Ostsee? Wenn man sich intensiv mit dem Untergang der Estonia befaßt, dann fallen einem Ungereimtheiten auf, seltsame blinde Flecken auf einem ansonsten scharfen Foto ...“

Und dann schickt der pfiffige Rademacher sich an, das Schwarzweißfoto zu kolorieren und die Katastrophe sowohl mit einer kurzen und guten Schilderung des möglichen Hergangs zu verdeutlichen, mit einer Rückblende, als auch mit einer ausführlichen Nachlese zu versehen, die zeitlich ein halbes Jahrzehnt später angesiedelt ist. Sie macht den Hauptteil dieses Kriminalromans aus, denn um einen Vertreter dieses literarischen Genres handelt es sich wohl, will man das Buch in ein großes Schubfach einordnen. Der Verlag hat auf einen kennzeichnenden Zusatz verzichtet, auch auf das heutzutage nichtssagende, weil beliebig und inflationär benutzte Wort Roman.

Es handelt sich um eine spezielle Art von Politkrimi: eine Mischung aus scheinbarem Tatsachenbericht mit frei rekonstruierten Vorgängen des Untergangs sowie dessen Untersuchung und sehr frei ausgedeuteten - sprich erfundenen - Hintergründen, nämlich ökonomische, politische, militärische Interessen an dem Schiff wie an einem Teil seiner Ladung, die auf dem Meeresgrund ruht. Hinzu kommen mehrere Morde ohne genauen Tathergang und ohne identifizierte Täter, Morde an Leuten, die entweder zuviel über den Untergang wissen könnten oder Nachforschungen über das Wie und Warum anstellen. Zu alledem darf der geneigte Leser sich seinen Teil denken. Der Autor läßt dem Rezipienten viel Freiheit, und dieser empfindet das keineswegs als Zumutung, denn das Buch ist gut geschrieben.

Das Geschick des Autors, an bestimmten Stellen einen Küstennebel aufziehen zu lassen, ist bemerkenswert. Es sind stets die wohlbedachten richtigen Stellen, und der Nebel ist so dosiert, daß man mit etwas Phantasie die Umrisse der Estonia auf dem Wasser und sogar unter Wasser sehen, die Gestalt eines Killers ahnen oder sich mehrere böse Jungs vorstellen kann, die dann auf den letzten Seiten des Buches der Geschichte ein böses Ende bereiten, dessen Dimension ebenfalls ein wenig im Nebel bleibt. Man darf sich denken, daß alle Guten umkommen, die in das Geheimnis der Estonia - ein Geheimnis made by Cay Rademacher - ihre neugierigen Nasen gesteckt haben. Kein glückliches Ende. Die Zeitbombe in der Tiefe der Ostsee tickt weiter. Sie strahlt sogar höchst gefährlich.

Eine weitgehend erfundene Geschichte also. Sie ist gut erfunden. Sie könnte immerhin möglich sein - heute scheint nichts unmöglich. Warum sollte ein Schiff mit vielen hundert Passagieren nicht wegen Kernbrennstoff oder Kernsprengstoff versenkt werden, der sich auf einem schweren Lastwagen an Bord befindet? Die Geschichte - Rademacher läßt die Katze erst ganz zum Schluß aus dem Sack - ist zwar in ihrer Substanz sehr spekulativ, aber sie ist unterhaltsam, durchaus spannend und übrigens in gutem Deutsch geschrieben (was man angesichts ekelhafter Überfremdung unserer Sprache mit Amerikanismen zur Ehre eines inländischen Autors wohl ausdrücklich sagen darf). Das Maß an schriftstellerischer Freiheit, das Cay Rademacher sich gestattet, ist zwar üppig, aber spätestens seit der von Nebeln umwallte Homer so schön abenteuerlich gedichtet hat, ist die freie Nachbereitung geschichtlicher Ereignisse, einschließlich Mord und Totschlag als deren treue Begleiter, durchaus legitim.

Der Autor liefert Genaues, was Erscheinungsbild und Atmosphäre der Handlungsorte betrifft, speziell Tallinn und Stockholm kann so nur beschreiben, wer sich dort umgesehen hat. Und er liefert Skurriles, was die Figuren der Geschichte betrifft. Seine Helden sind Antihelden - ein drei Zentner schwerer, schwerreicher und schwuler deutscher Graf, ein joggender und zunächst erotisch gehemmter Epileptiker, ebenfalls aus deutschen Landen, ein schwindsüchtiger Stockholmer Schiffsexperte, eine filigrane junge Tänzerin aus Estland, ein Bergungstaucher a.D. aus Schweden mit seiner afrikanischen Frau. Internationale Besetzung also. Zwei Hauptpersonen, der ewig fressende und saufende Graf und der ewig joggende Epileptiker, sind ein einprägsames Paar. Sämtliche Akteure, auch die Randfiguren, werden anschaulich dargestellt, gewinnen mit wenigen Sätzen ein Eigenleben. Der Autor hatte offenbar Vergnügen daran, eine ausgefallene personelle Mischung zusammenzustellen. Mancher könnte finden, seine Phantasie sei eine Spur zu stark entwickelt, zu starker Tobak sei insbesondere die Zeitbombe auf dem Grund der Ostsee, deren Existenz buchstäblich um jeden Preis geheimgehalten werden soll. Das ist Ansichtssache. Unterhaltsam bleibt die Geschichte allemal. Und erlaubt ist, was unterhält.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11+12/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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