Eine Rezension von Friedrich Schimmel


Mit dem Bus durch Anatolien

Orhan Pamuk: Das neue Leben
Roman.
Aus dem Türkischen von Ingrid Iren.
Carl Hanser, München und Wien 1998, 347 S.

 

Dieser Roman beginnt ganz romantisch. Der Ich-Erzähler, ein Student des Ingenieurwesens, liest in einem Buch. Es ist nicht der Heinrich von Ofterdingen von Novalis, der hier das Motto gibt, es ist ein magisches Buch, in das der Leser hineingezogen wird. Es bleibt unklar, was wirklich in dem Buch steht. Aber es vermittelt dem Lesenden eine Botschaft: Es macht ihn „neugierig auf das vor mir offen liegende neue Leben, daß mir einfach alles, was existierte, der näheren Betrachtung wert schien“.

Der Held setzt sich in einen Bus, später noch in viele andere, und fährt durch Anatolien. Aus Istanbul kommend, verläßt er den östlichsten Zipfel der westlichen Welt, taucht in den Orient ein. Nicht nur die Landschaft ändert sich, alles ist anders, alles ist neu. Der Held erlebt ein ursprüngliches Land, erlebt dabei seine Wiedergeburt. Er ändert seinen Blick auf alle Dinge, und es wird sehr anschaulich erzählt, wie gerade dieser andere, verwandelte Blick des forschenden Auges den Betrachtenden verändert. Er sieht ganz deutlich den Unterschied von noch anatolischer Tradition und dem heranziehenden Konsum-Westen. Ganz eigenartig ist die Welt im Bus. Draußen die Steppe, die Derwische, drinnen - über dem Sitz des Fahrers - flimmert pausenlos sex and crime auf amerikanisch oder türkisch. Das Leben ist haltlos, es fließt vorbei, es weckt Erinnerungen, setzt Zeichen der Hoffnung, ist Kreislauf aller Dinge.

Orhan Pamuk hat einen Roman geschrieben, der kunstreich zwischen Orient und Romantik, zwischen Europa und Asien balanciert. Ähnlich wie Heinrich von Ofterdingen sucht auch der Held Osman das Gedicht der Welt, die Poesie des Lebens. Doch das Wunder, das einst Novalis suchte, Osman wird es ebensowenig finden. Umsonst ist seine Reise jedoch nicht. Ein Unfall wirbelt alles durcheinander. Es ist, als erblicke Osman dadurch alles noch viel schärfer. Das weite Leben im weiten Land: „Mein Verstand war hell erleuchtet wie die Lokale, in denen wir während der Rast auf unseren nächtlichen Busfahrten unsere Suppe löffelten, aber auch vollkommen durcheinander.“

Er lernt sich neu kennen, das vermeintlich „neue“ Leben unterscheidet sich in vielem von seinem vorherigen, aber er bleibt in Anatolien, an jedem Ort, an dem er beobachtet und lernt, zugleich ein Fremder. „Du bist nicht von hier“, tönt es ihm entgegen. Und er stürzt sich wieder in die Lektüre der Bücher, dreiunddreißig an der Zahl. Er entdeckt das „heimliche Geflüster der Texte untereinander“, stellt „Beziehungsnetze“ auf, die das erlebte und das vermittelte Leben zu verbinden versuchen.

Und immer wieder Busfahrten. Erfahrungen unterwegs. Erfahrungen an allen Orten, auch an vorgestellten. Da gibt es die phantastische Tagung der „Vertreter mit gebrochenem Herzen“ im Roman. In einem kleinen Ort namens Güdül versammeln sich Leute in der Oberschule, um sich gegenseitig neue Erfindungen vorzustellen. Neben dubiosen Dingen auch einen Apparat zum Aufbewahren der Zeit. Alles ist mehrdeutig, halb orientalisch, halb westlich. Auch der Rilkesche Engel, der von einem Reklameengel auf einer Verpackung abgelöst wird. Orhan Pamuk beschreibt Anatolien als eine ferne und doch nahe Landschaft. Der Traum vom anderen, vom neuen Leben verwirklicht sich nicht. Es bleiben Erfahrungen, Erfahrungen der Unmöglichkeit. Aber auch die Einsicht, daß das vor ihm liegende Leben vielleicht auch dadurch ein neues ist, wenn er es nur mit etwas mehr Zuversicht, mit mehr Sorgfalt zu führen versteht.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11+12/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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