Eine Rezension von Manfred Lemaire


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Es tanzen zu viele Puppen

 

Arno Meyer zu Küingsdorf: Die Generalprobe
Roman.

Ullstein Verlag, Berlin 1999, 315 S.

 

Der Autor, Jahrgang 1960, lebt in Berlin, so die Verlagsangabe zu seiner Vita. Da muß man sich wundern (und man müßte sich bei jedem Autor wundern), daß er die Einwohnerzahl der deutschen Hauptstadt zum Ende dieses Jahrhunderts mit fünf Millionen angibt. Tatsächlich sind es weniger als 3,4 Millionen mit weiter sinkender Tendenz. Zuziehende Beamte aus Bonn gleichen den Schwund nicht aus. Zum Einzugsgebiet der Stadt werden - in einem Dialog immerhin mit Fragezeichen versehen - sechs Millionen Menschen gerechnet. Wieder grob falsch. Das gesamte Land Brandenburg, in dessen Mitte Berlin liegt, hat lediglich rund 2,5 Millionen Einwohner. Sollen Cottbus und Kyritz, Neuruppin und Frankfurt/Oder noch zum Berliner „Einzugsgebiet“ gehören?

Keine einmaligen Ungenauigkeiten. London wird als die größte Stadt Europas mit über fünf Millionen Einwohnern bezeichnet. Greather London aber hat tatsächlich mit sieben Millionen deutlich weniger als Moskau mit neun Millionen Einwohnern, die allein innerhalb des Autobahnrings leben. Oder gehört die russische Hauptstadt nicht mehr zu Europa? Ein anderes Beispiel läßt Schwäche im Kopfrechnen erkennen: Im Fußball „verdreifachten die Bundesliga-Klubs ihre Etats, von 100 Millionen Mark auf über eine halbe Milliarde Mark“. Dreimal 100 = 500?

Solche vermeidbaren, von einem seriösen Autor unbedingt zu vermeidenden Pannen werden von sprachlicher Schluderei begleitet. Meyer beschreibt eine Fahrt mit der Berliner U-Bahn: Die Reisenden „passierten eine Reihe klangvoller Stationen“. Meyer schildert einen nächtlichen Ausflug seiner Romanfiguren zu Berliner Gewässern: „Sie bahnten sich ihren Weg durch Segelboote hindurch.“ Die Erheiterung des Lesers geht hier doch wohl auf Kosten des Autors und des Lektorats.

Man mag solche Anmerkungen als blanke Mäkelei abtun und darauf hinweisen, daß ein als Polit-Krimi daherkommender Taschenbuch-Roman keinen hohen Anforderungen unterliegen sollte: Unterhaltung für ein paar Tage oder ein paar Stunden darf man nicht so genau nehmen - ex und hopp! Mit dieser Devise aber könnte man jedem Anspruch an Unterhaltungsliteratur entsagen. Qualitätsmängel, erkennbar auf den ersten Blick, möchte vielleicht weder der Teil des Publikums hinnehmen, der zumindest Genauigkeit in den nachprüfbaren Details erwartet, noch ein ehrgeiziger Autor, der nach einem freundlich aufgenommenen Debüt (Arno Meyer, Kreis des Schweigens, ebenfalls bei Ullstein) auf weitere Zustimmung hofft. Im übrigen hat diese Art deutscher Gegenwartsliteratur sich gegen eine mächtige Konkurrenz durchzusetzen, insbesondere aus dem angloamerikanischen Sprachraum, und da sollten die Maßstäbe eher höher als niedrig angesetzt werden.

Hier nun handelt es sich um einen Polit-Krimi mit aktuellem Anstrich. Der fiktive Vorgang: Das eben halbwegs fertiggestellte Reichstagsgebäude in Berlin-Mitte soll in die Luft gesprengt werden, mitsamt den generalprobenden Berliner Philharmonikern sowie Bundeskanzler N. N. und seinen handverlesenen Gästen aus der internationalen Wirtschaftswelt. Der Anschlag wird, wie nicht anders zu erwarten, in letzter Sekunde vereitelt.

Die Idee ist exzellent. Sie bietet dem Autor jede Möglichkeit, ein breit angelegtes Szenarium zu entwickeln, es mit Personen zu bestücken und alle Puppen tanzen zu lassen, den killenden Auftragnehmer des Sprengspektakels ebenso wie die Sicherheitsbeamten der Bundesbaustellen, den offenbar unvermeidlichen Super-Computerfachmann ebenso wie einen existenzkriselnden Sportreporter, der die ebenso unvermeidliche Medienszene und den Götzen Fußball ins Spiel bringt.

Man ahnt es: Aus der exzellenten Idee ist ein Buch gemacht worden, in dem zu viele Puppen tanzen. Da ist wirklich alles und damit zuviel drin - die Russenmafia und die Medientycoons (der Autor bemüht ohne Not fast alle gängigen Schlagworte der Boulevardblätter), die Quotenkonkurrenzsituation im Privatfernsehen, ein Konkurrenzdrama unter Journalisten, ein Ehedrama und als Happy-End die Zangengeburt in einem Mecklenburger Dorf, das wohl auch noch zum Berliner Einzugsgebiet gehört. Es treten auf und kommen vor: der englische Architekt Norman Foster, der italienische Dirigent Claudio Abbado, die Euthanasieverbrechen der Nazis und ein Mord auf Lanzarote, Sprengstoffgeheimnisse der Stasi und eine Bettgeschichte im Nobelhotel nebst weiterem Mord im Tiergarten. Dies alles geschüttelt und gerührt. Weniger wäre mehr gewesen.

Meyer hätte sich auf eine überschaubare Handlung beschränken sollen, deren Spannung darin liegt, daß sie sich immer mehr der Reichstags- und Bundeskanzlersprengung nähert, schier unaufhaltsam. Viele, zu viele Nebenhandlungen und Randfiguren können eine von der Idee her gute Geschichte nur verschlechtern. Der Autor läßt seinen Sportreporter angesichts der mannigfachen Undurchschaubarkeiten sagen: „Er konnte nicht behaupten, daß er schlauer war als zuvor.“ Meyer muß gespürt haben, was er da anrichtet.

Berechtigter Kunstgriff des Autors: Es wird verschwiegen, warum und wozu der Bundeskanzler überhaupt in die Luft fliegen soll. Berechtigter Einwand des Autors, dem seine Schludereien nebst Puppentanz vorgehalten werden: Er habe doch eine Menge gute Dialoge und Szenen zu bieten. Das stimmt, und deswegen ist das Buch eine nette Freizeitlektüre. Über einigen Kitsch darf man hinweglesen. Etwa: „Seine Hände hielten ihren Oberkörper wie eine kostbare chinesische Vase, sie schälte ihn aus seinem Hemd.“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11+12/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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