Eine Rezension von Helmut Hirsch


Zurück in die Vergangenheit

William Maxwell: Also dann bis morgen
Roman.
Aus dem Amerikanischen von Benjamin Schwarz.

Zsolnay Verlag, Wien 1998, 163 S.

 

Am Anfang ereignet sich ein Mord. Aber es entwickelt sich kein Kriminalfall. Der Ich-Erzähler erinnert sich dieser Geschichte mit dem Abstand eines halben Jahrhunderts. Inzwischen ein alter Mann, steigt er noch einmal in die Gefilde der Kindheit zurück. Eine Kindheit, über der Schatten lagen, die geliebte Mutter früh verstarb und ebendieser Mord geschah. Als Kind nahm er das alles nur am Rande war, es gehörte zu den Geschichten der Tage. Weit mehr war der Junge in Illinois um 1920 mit sich selbst beschäftigt. Mit seinem ungelenken Körper, in der Turnhalle oder auf dem Fußballplatz zumeist am Rande stehend, eher unbeachtet von den andern. Eine stille, eine sentimentalische Kindheit wird erzählt. Leben ja, aber vielleicht immer ein bißchen zu wenig vom Leben, meint der Junge zu haben. Wohin das alles nur treiben wird, fragt er sich. Und der plötzliche Tod der Mutter lähmt ihn noch mehr. Daß der Vater an dieser Lähmung nicht teilzunehmen scheint und bald schon wieder heiratet, löst Fluchtgedanken aus. Tagsüber, nach Schulschluß, begibt er sich auf eine Baustelle. Aber es ist nicht der beste Fluchtort, denn gerade hier baut sein Vater ein neues Haus, um ein neues Leben zu beginnen. Hier träumt der Junge von der toten Mutter, und hier findet er Cletus, sehr schweigsam und im Grunde unzugänglich, mit dem er sich anfreundet. Sie klettern gemeinsam, balancieren, gleiten durch die offenen Räume. Aber sie teilen sich nichts Näheres voneinander mit. Der Mord, womit der Roman eröffnet wird, bricht aber plötzlich in diese Jungenfreundschaft ein. Cletus kommt eines Tages nicht mehr zum verabredeten Spiel auf die Baustelle. Der Vater seines Freundes ist der Mörder.

Die Erzählfigur erinnert sich später, als alter Mann, bei Betrachtung einer Skulptur des Italieners Alberto Giacometti („Der Palast um vier Uhr morgens“) an die Baustelle seines Vaters. An die Wortkargheit seines Vaters und an die des Freundes Cletus. Da ist es wieder, dieses Gefühl des freien Blickes in den Himmel, durch alle noch nicht errichteten Wände hindurch. Ist es ein Wunder, daß er ausgerechnet nach einem halben Jahrhundert hier seinen Freund wiedertrifft? Es ist der Wille des Erzählers, der wunderbar eindringlich von den Versäumnissen, den nicht gestellten Fragen erzählt, die diese Kindheit bestimmten. Und die wichtigen Fragen, die er nie gestellt hatte, beschäftigen ihn nun um so eindringlicher. Ganz und gar unaufdringlich werden Bilder aus der Vergangenheit herbeigeholt, wird von Freundschaft und Feindschaft, Liebe und Eifersucht, Haß und Tod, von Schmerz und Schwermut, von der einstigen Verzweiflung des Jungen berichtet.

Also dann bis morgen ist 1980 im Original erschienen und wurde mehr von den Schriftsteller-Kollegen als von einem größeren Lesepublikum begeistert aufgenommen. Ein stilles, ein poetisches Buch. Und ein Buch, über das der Erzähler Richard Ford meinte, es habe ihn und andere Autoren auf den Gedanken gebracht, „einen kurzen Roman zu schreiben. Aber dieses Vorbild besitzt eine einschüchternde Eigenschaft, mit der man unmöglich konkurrieren kann: Es läßt Größe als etwas Einfaches erscheinen.“

William Maxwell, 1908 in Lincoln, Illinois, geboren, hat bisher vierzehn Bücher geschrieben. Also dann bis morgen ist der bisher letzte Roman eines Mannes, der Jahrzehnte als Redakteur gearbeitet hat und inzwischen 91 Jahre alt ist. Maxwells Erzähler in diesem Roman meint einmal, wenn wir über die Vergangenheit reden, „lügen wir mit jedem Atemzug“. Wer das sagt, zeigt Gefühl und Phantasie, ist ein Geschichtenerzähler des Wirklichen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11+12/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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