Eine Rezension von Helmut Eikermann


Ein Jahrhundert wird besichtigt

 
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Waldtraut Lewin:
Luise, Hinterhof Nord
Ein Haus in Berlin 1890.
220 S.

 

 

Paulas Katze
Ein Haus in Berlin 1935.
256 S.

 

 

Mauersegler
Ein Haus in Berlin 1989.
192 S.

Ravensburger Buchverlag, Ravensburg 1999

 

Vor fast 50 Jahren begeisterten mich die heute längst vergessenen Erlebnisse und Abenteuer der Kinder aus Nr. 67, ein neunbändiger Romanzyklus, in dem sich Lisa Tetzner mit der Geschichte von Berliner Kindern in der Nazizeit auseinandersetzte. An diese Bücher, vor allem an Erwin und Paul und Das Mädchen aus dem Vorderhaus, aber auch an die Emigrationserlebnisse von Mirjam wurde ich erinnert, als ich Waldtraud Lewins Trilogie in die Hand bekam. Lewins Bücher sind nicht als Kinder-, sondern als Jugendbücher konzipiert und ohne Tümelei und falsche Zurückhaltung „wie für Erwachsene“ geschrieben - und stellenweise, um das apokryphe Gorki-Wort zu vollenden, besser.

Lewin, als erfolgreiche Autorin von Rock-Opern-Libretti, von Hörspielen, historischen und Kriminalromanen ausgewiesen, hat es in den drei Bänden unternommen, die Geschichte einer Berliner Mietskaserne aufzuschreiben. Herausgekommen ist eine bunte, spannend erzählte und mit allerlei Geheimnissen aufgepeppte Familiensaga, erzählt jeweils aus der Sicht eines der Sander-Mädchen aus dem zweiten Hinterhof.

Da ist zuerst Luise, die hübsche Lieblingstochter des versoffenen Hausmeisters Wilhelm Sander und der Quartalstrinkerin und Waschfrau Anna, die hart mit den Realitäten des Lebens in der vielgerühmten Kaiserzeit zusammenstößt und am Ende gar ein Happy-End erlebt.

Kein Zweifel, Waldtraud Lewin kann großartig erzählen. Paulas Katze glänzt mit psychologischer Genauigkeit und einer differenzierten Darstellung der Nazis. S o ist vieles noch nicht erzählt worden. Aber auch in diesem Band schimmert, wie in den beiden andern, immer wieder das heutige Wissen der Autorin durch, das sie auf ihre Heldinnen überträgt - und das mitunter ungenau ist: 1890 war die Gasbeleuchtung in Berlin keineswegs neu; seit 1882 erleuchteten elektrische Bogenlampen Teile der Stadt; 1935 gab es keinen alten Volkssturmmann, keine Catcher, keine Originalübertragung aus Nürnberg im Fernsehen und vor allem keinen Fernsehsender Adlershof.

Der dritte Band schließlich ist eher ein Agenten-Thriller als ein Berlin-Roman. Karol Sander, die mollige Bürgerbewegte, erzählt ihre wirre und unglaublich-unglaubwürdige Geschichte wiederum mit etlichen Ungenauigkeiten. Auch im stürmischen Herbst ’89 ist manches ein bißchen anders gewesen, als die Autorin uns glauben machen will. Im Oktober konnte kein gerade aus der Haft Entlassener mal schnell über Ungarn türmen. Abgesehen vom fehlenden und todsicher verweigerten Visum wurde die Einreisesperre in die CSSR erst zum 1.November aufgehoben. Und weshalb strickt Lewin noch einmal an der Legende von der „versehentlichen“ Maueröffnung? Die Fakten sind bekannt und dokumentiert.

Überhaupt erscheint im dritten Band der gewählte Ausschnitt zu willkürlich und einseitig. Das Haus dient als bloße und anscheinend von keinem anderen Menschen als Lewins Protagonisten bewohnte Kulisse; die Reduzierung der ablaufenden gesellschaftlichen Prozesse auf tumbe und fremdgesteuerte Bürgerrechtler und eben die Steuernden, auf plumpe Gewalt und Agenteneinfluß ist ein bißchen zu simpel und platt. Anderes wiederum ist gut getroffen, wie das Leben der Alternativen in Ost und West und die diffuse Atmosphäre der Bürgerbewegung. Dumpfe Verschwörungstheorien jedoch, viel unklares Gedöns um die Familiengeschichte und die Bilder des großen Kitschmalers Otto Markwardt, jüdischer Stammvater des plötzlich auftauchenden amerikanischen Seitenzweiges der Familie Sander-Glücksmann-Baron, täuschen nicht darüber hinweg, daß reales Berliner Leben in den anderen Bänden umfassender und genauer, weil dichter an der Realität, geschildert ist.

Hatte man schon im Band über die Nazizeit das Gefühl einer leichten Überfrachtung der Sanderschen Familiensaga mit dem manchmal allzu direkt reflektierten Zeitgeschehen, so verstärkt sich dieses Empfinden in Mauersegler stellenweise bis ins Peinliche. Billige Klischees wie das vom abgeriegelten sowjetischen Wohnbezirk in Karlshorst (den es seit 1963 nicht mehr gab) verstärken überdies den Eindruck mangelnder Recherche.

Als grundsätzlichen Mangel der drei trotz mancher Einwände höchst lesenswerten Bücher sehe ich die ungenaue Lokalisierung des Hauses an, das man sich wohl irgendwo in der Gegend der Bernauer Straße denken muß - aber dort gibt es keinen Kanal, und die häufig genannte Wilhelmstraße ist weit. Im Polizeibericht ist von Berlin O die Rede, das Scheunenviertel liegt angeblich um die Ecke. Den Begriff Berlin-Mitte gab es übrigens 1890 noch nicht.

Selbstverständlich liegt es im Ermessen einer Autorin, einen fiktiven Schauplatz zu erfinden. Aber während das Leben der Lewinschen Protagonistinnen sinnlich und nachvollziehbar erscheint, fehlt die Atmosphäre des Wohnviertels, der Straße, des Hauses, der beiden Hinterhöfe fast gänzlich. Dabei ist gerade in Berlin nichts so wichtig wie der Kiez, in dem man wohnt. Lewins Krimis beispielsweise leben davon. Hier jedoch finden sich lediglich im ersten Band Ansätze, die in den beiden anderen Bänden nicht aufgenommen werden.

Und ein zweiter, zaghafter Einwand: Die auftretenden Männer sind ganz überwiegend Kinderschänder, Trinker, Kitschmaler, Fremdgänger, Nazis, Agenten, sonstige Schlappschwänze und Weicheier. Womit haben Lewins starke Frauen die verdient?


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11+12/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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