Eine Rezension von Waldtraut Lewin


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Mit vierzig fällt der Hammer?

 

Friedrich Kröhnke: Die Atterseekrankheit
Roman.

Ammann Verlag, Zürich 1999, 439 S.

 

Diese Krankheit hat einen medizinischen Namen: Tetanie. Es ist die „Angst vor der Angst“, eine physio-psychische Störung, die in schwerste, ja lebensbedrohliche Depressionen führen kann und durch einen Kalziummangel im Blut hervorgerufen wird. Die Mutter des Ich-Erzählers leidet darunter, und der „Held“ fürchtet sich vor dieser Krankheit - weshalb er auf möglichst exzentrische Weise sein Leben auszukosten bemüht ist. Daß das Ich dieser Hauptperson weitgehend biographische Züge trägt, ist mit Sicherheit vorauszusetzen, zumal er sich nicht einmal hinter einem anderen Namen versteckt: Friedrich heißt im Buch Friz, aparterweise ohne „t“. Und aufs Aparte kommt es ihm denn wohl doch an.

Kröhnke nimmt - und das ist einem biographisch Arbeitenden ja kaum zu verdenken - sich, seine Familie, seine Zeit sehr wichtig. Er hat ungeheuer genau recherchiert und wohl auch seit eh und je Tagebuch geführt. Er überschüttet uns mit einer Fülle zeitgeschichtlicher Details, an die sich kaum jemand erinnert, und man sagt oft erinnernd: „Ach ja! Natürlich, so war das! Das gab’s damals“, und es ist schon amüsant festzustellen, über was man sich in den guten alten Siebzigern noch aufgeregt hat und was alles als schockierend galt. Friz und sein Zwillingsbruder werden im piefigen Darmstadt gleichsam zu Prototypen der antibürgerlichen Rebellion, machen bei den Trotzkisten mit; und schließlich landet Friz, der Individualist, in Berlin, allwo er sich fühlt wie ein Fisch im Wasser. Bis auf eine verschwindend kurze Zeitspanne hat „Herr Dr.“ nie gearbeitet, sondern wartet auf die Überweisungen seiner alten Naziverwandtschaft, auf deren Kosten er die Welt bereist - immer auf der Suche nach dem ultimativen Kick in Sachen Knabenliebe.

Denn das ist nun das Eigentliche. Von allem Anfang an sind es die Porträts angehimmelter Mitschüler, die erfüllten oder unerfüllten Lieben zu Fünfzehnjährigen, die Kennenlern-, Mitnehm- (oft auch Ausnehm-), Verliebtsein-, Verkrachtsein-, Auseinandergeh-Stories, die die Buchseiten füllen. Friz ist - abgesehen von den zwei Frauen, mit denen er wechselweis oder gleichzeitig zusammenlebt - bekennender Pädophile. Die Beziehungen zu den Jungen strukturieren sein Leben, lassen ihn himmelhoch jauchzend oder zu Tode betrübt daherkommen, führen ihn in ungeahnte Seligkeiten oder lassen ihn hilflos vorm Klo liegen.

„Künstler. Lebenskünstler. Schmarotzer.“ So heißt eins der Kapitel des Buches. Friz ist schamlos unsozial, er fühlt sich der Gesellschaft gegenüber in keiner Weise zu irgend etwas verpflichtet, sieht nur zu, daß er zu dem Seinen kommt. Er wildert überall da, wo er etwas kriegen kann, ob das nun bei Drogensüchtigen am Bahnhof Zoo ist oder bei Passierschein-Besuchen in Ostberlin oder bei Reisen nach Thailand. Das gilt ihm alles gleich. In Kröhnkes Darstellung sind die süßen Fünfzehnjährigen, mit denen er sich einläßt, alle voll bei der Sache, lieben ihn so wie er sie, genießen die frühen erotischen Erfahrungen. So schafft er es, daß aus der Pädophilie an keiner Stelle Päderastie wird - wobei ich allerdings Zweifel anmelden möchte, wenn er von den sexbesessenen jungen Thailändern und Thailänderinnen berichtet - als ob es keine Kinderprostitution gäbe, sondern man in jenen Breitengraden aus lauter Lust und Dollerei auf den Babystrich gehen würde.

Das - wie sagt man doch? - „flott geschriebene“ Werk hat seinen Wert als Zeitstudie und gewiß auch als Abbild einer vor aller Verantwortung fliehenden Nach-Achtundsechziger-Generation, ist aber dann doch ein bißchen kurzatmig wie seine Kapitel, die manchmal bloß eine halbe Buchseite ausmachen; und so spannend ist das Leben der Schwulen an sich nun auch nicht; jedenfalls kommt mir die Darstellung Kröhnkes manchmal wie Leporellos Register vor: „Doch in Spanien schon Tausendunddrei ...“ Eine gewisse Art, beiläufig mit Prominenten-Bekanntschaften zu protzen und altkluge, aber wenig durchdachte Urteile über politische Vorgänge abzugeben, machen mich diesen fast 450 Seiten gegenüber denn doch etwas zurückhaltend gesonnen.

Zum Schluß bereist Friz die alte Familienheimat in Tschechien und hat eindeutig Torschlußpanik. Mit vierzig ist das Ende des süßen Lebens seiner Couleur offenbar in Sicht. Was nun, Friz - wenn du nicht zum Alten Friz werden möchtest? Also ob Bücherschreiben die Alternative ist, möchte ich dahingestellt sein lassen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11+12/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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