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Henrik Engel

Am Ende unseres Jahrhunderts: Nobelpreis für Günter Grass

Anmerkungen zum Dichter und seinem neuesten Roman

 

Mein Jahrhundert ist ein nicht unbescheidener Titel für jenes Buch, das Günter Grass - wie bereits im Frühjahr 1992 die Erzählung Unkenrufe - erstmalig auf der Leipziger Buchmesse vorstellte. Auf der größeren Schwesterveranstaltung in Frankfurt wurde am 16. Oktober 1999 somit nicht nur der 72. Geburtstag des Verfassers von Mein Jahrhundert gefeiert, sondern auch das (offizielle) Erscheinen dieses Bandes ohne genauere Genrebezeichnung. Beide, Autor und Buch, das bereits bis Jahresende in 18 Übersetzungen vorliegen soll, stellten sich dem in Frankfurt versammelten internationalen Publikum und seiner Kritik. So wird den bereits jetzt erkennbaren Erfolg nicht einmal die Kritik des Feuilletonredakteurs einer bekannten überregionalen Frankfurter Tageszeitung verhindern, da der weltweit an Literatur interessierten Öffentlichkeit durch das Nobelpreiskomitee in Stockholm am 1.Oktober diesen Jahres der nun letzte Nobelpreisträger unseres Jahrhunderts bekanntgegeben wurde: Günter Grass. Und schon rauscht das Lob durch den internationalen Blätterwald verschiedenster Feuilletonbiotope: „Grass ist der geborene Literaturnobelpreisträger“, heißt es in der „Baseler Zeitung“ und der britische linksintellektuelle „Guardian“ kommentiert: „Grass muß als einer der größten Former literarischen Bewußtseins in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts angesehen werden.“ Die polnische Presse schließlich zollt jenem Autor, dessen Anfangsroman der Danziger Trilogie bis in die Mitte der 80er Jahre in Polen nicht erscheinen konnte, anerkennenden Tribut. So schreibt u. a. die Warschauer „Gazeta Wyborcza“: „Ohne Grass wären die Deutschen eine andere Nation. In gewisser Weise wären auch wir Polen eine andere Nation. Dieser ungewöhnliche Danziger mit seinem Schnurrbart hat nie seine Sympathie für unser Land verborgen.“

Nach der Vielzahl von erhaltenen (und wegen des Erscheinens der Novelle Katz und Maus auch aberkannten) Auszeichnungen, an derem vorläufigen Ende die Verleihung des Prinz-von-Asturien-Preises als einer der bedeutendsten Ehrungen für Literatur in Spanien stand (erstmalig erhielt ihn mit Günter Grass ein nicht-spanischer Autor), reiht sich der in Danzig geborene Romancier nun in die Reihe von Schriftstellern ein, denen jene höchstmögliche Form der Anerkennung zuteil wurde. Unter ihnen befinden sich so klangvolle Namen wie George Bernard Shaw (1925), Sinclair Lewis (1930), André Gide (1947), William Faulkner (1949), Ernest Hemingway (1954), Albert Camus (1957), Boris Pasternak (1958, abgelehnt), John Steinbeck (1962), Jean-Paul Sartre (1964, abgelehnt), Aleksander Solzenicyn (1970), Pablo Neruda (1971) und Gabriel García Márquez (1982). Diese neben der Physik, Chemie, Mathematik, Medizin und (friedenstiftenden) Politik seit 1901 auch der Literatur gewidmete alljährliche Auszeichnung erhielten unter den deutschsprachigen Schriftstellern neben Gerhart Hauptmann (1912) u. a. Thomas Mann (1929) und Hermann Hesse (1946) nach Ende des Zweiten Weltkriegs als deutscher Staatsbürger bisher nur Heinrich Böll (1972) - Elias Canetti (1981) war Österreicher, und die aus Deutschland geflohene Nelly Sachs wurde 1966 als Schwedin geehrt. Insofern erntet Günter Grass, der inzwischen drei verschiedene Generationen zu seinen Lesern und Zuhörern zählt, erst relativ spät und nach gut 20jähriger Kandidatur jene Anerkennung für sein literarisches Œuvre, mit dem er sich zweifelsohne in unser Jahrhundert einschrieb.

Gleich mit seinem Erstlingsroman gelang dem damals noch in Paris lebenden Autor der große Wurf. Daß ein so unnachgiebiger Kritiker wie Marcel Reich-Ranicki, der noch 1960 Die Blechtrommel als „kein[en] gute[n] Roman“ bezeichnete, sich zu einer „Selbstkritik des Blechtrommel-Kritikers“ genötigt sah, oder daß ein so vielseitiger Regisseur wie Volker Schlöndorff trotz zahlreicher Literaturverfilmungen (u. a. Max Frischs Homo Faber oder Michel Tourniers Erlkönig) sich immer wieder den Vergleich mit seiner „Blechtrommel“ gefallen lassen muß, ja daß ein US-Bundesstaat wie Oklahoma noch 1997 jenen Roman wegen Pornographie-Verdachts in einem Land verbot, dessen amerikanische Übersetzung bereits gegen Mitte der 80er Jahre die Millionengrenze überschritt, zeigt, welche Bedeutung Grass’ Erstlingswerk immer wieder, wenn auch auf unterschiedlichste Art und Weise, beigemessen wird. Dennoch vermied es die Stockholmer Jury - wie 70 Jahre zuvor zum Verdruß von Thomas Mann - allein das Erstlingswerk zu würdigen. Trotzdem wird in der Preisverleihung die Bedeutung der Blechtrommel nicht nur für das Œuvre von Grass, sondern auch für die deutsche Nachkriegsliteratur schlechthin, betont. Dort heißt es gleich zu Beginn, daß mit dem Erscheinen des Romans „der deutschen Literatur nach Jahrzehnten sprachlicher und moralischer Zerstörung ein neuer Anfang vergönnt worden“ war. So betont auch der wegen Meinungsdifferenzen zur deutschen Wiedervereinigung Grass gegenüber zunehmend kritisch eingestellte „Spiegel“ anläßlich der Namensverkündung des neuen Nobelpreisträgers, daß der Autor mit seinem 1959 erschienenen Roman zeigte, „daß ein deutscher Schriftsteller in der Lage war, über Nazi-Deutschland ohne Beschönigung und zugleich in selbstbewußt artistischer Haltung zu schreiben - mit einem Narren als Sprachrohr, der sich duckt und klein macht, um endlich ohne Scheu und Skrupel plaudern zu können“.

In Abständen von jeweils zwei Jahren wurde Grass’ 1959 erschienener Debütroman um die Novelle Katz und Maus (1961) sowie um den in Deutschland nicht sehr erfolgreichen, im angelsächsischen Raum aber wie von Grass selbst über der Blechtrommel angesiedelten Roman Hundejahre (1963) erweitert. Der britische Germanist und Retter des auf einem Pariser Dachboden vergessenen Urtrommel-Manuskripts, John Reddick, faßte diese drei Werke als erster unter dem Begriff Danziger Trilogie zusammen. Grass’ Geburtsort wurde immer wieder [Ausnahmen sind der Roman örtlich betäubt (1969), seine Novelle Das Treffen in Telgte (1979) als eine in die Zeit des Westfälischen Friedens verschobene Fiktionalisierung jener Art von Schriftsteller-Treffen, wie sie die Gruppe 47 bis 1967 praktizierte, und der durch die deutsche Kritik so verrissene Roman Ein weites Feld (1995)] zum Spiritus loci seines Œvres. Ob nun die namenstiftende Tiergestalt aus dem Butt (1977), die als Verkörperung des männlichen Prinzips mit ironischer Zunge gegen die vier ihn bedrängenden Frauen argumentiert, oder jene 1986 veröffentlichte und inzwischen für sechs Millionen Mark von ARD und ZDF verfilmte Rättin, welche mit ihren Artgenossen nicht nur in Gdansk die atomare Apokalypse überlebt und die Menschheit ob ihrer sich zum Wahnsinn wendenden „Vernunft“ verlacht, oder ob die in den Unkenrufen unkende Unke - sie alle nennen mit Danzig/Gdansk eine Heimat ihr eigen, die in den Flammen des letzten Weltkriegs wie Vineta im Meer versank und deren Multikulturalität auf Jahrzehnte hinaus ausgelöscht zu sein schien. „In Gdansk suchte ich Danzig“, gestand Günter Grass, und sein Freund und Kollege Salman Rushdie sieht in dem von der Ostsee nach Berlin verzogenen Autor „eine Gestalt von zentraler Bedeutung in der Literatur der Migration“. Denn in den Augen des in Bombay geborenen und in London lebenden Schriftstellers hat der aus Danzig stammende Romancier wie „viele Leute, die eine Stadt verloren haben, [...] sie in seinem Gepäck wiedergefunden“.

Nun aber gibt es mit Mein Jahrhundert neben dem in einer Berliner Praxis handelnden örtlich betäubt, dem in Westfalen angesiedelten Treffen in Telgte sowie dem nicht in Danzig spielenden Ein weites Feld erneut eine Ausnahme. Das Buch ohne festen Handlungsort erzählt Geschichte in 100 kurzen Geschichten und spannt so einen epischen Bilderbogen über die herausragenden Ereignisse der letzten 100 Jahre unseres nun ausklingenden Millenniums. Über eineinhalb Jahre sortierte Grass das in seinem Archiv angestaute Material, um dabei ein exemplarisches Ereignis für jedes einzelne Jahr herauszufiltern, über das - unter Mithilfe eines Historikers - sorgfältig recherchiert wurde. Historie ist etwas Abgelegtes, Geschichte aber ist lebendig und setzt sich aus unendlich vielen individuellen Einzelgeschichten zusammen, von denen Grass einige erzählen möchte. Nun liegt uns jenes Buch vor, welches - literarisch und bildnerisch verdichtet - Geschichte lebendig werden läßt.

Aus häufig wechselnder (Figuren-)Perspektive berichten verschiedenste Personen in unterschiedlichsten Tönen: von salopp-heiter über resigniert-wissend bis melancholisch-betrübt, vom naiven Soldaten aus Oberbayern, der als Teilnehmer des deutschen Kolonialkorps den Boxer-Aufstand in China niederschlagen hilft, über eine klagende Arbeiterfrau bei Krupp, die ganz familiär von dort geplanten Rüstungsprojekten plaudert, bis zu jenen pilzesammelnden Senioren, die halb wissenschaftlich und zugleich halb umgangssprachlich über den Super-GAU von Tschernobyl sinnieren. Und der zum Nobelpreisträger gekrönte Altmeister deutscher Literatur hat für alle den jeweils passenden Ton parat. Die großformatige und gleich doppelt teure Buchausgabe des auch zeichnenden Künstlers Grass unterlegt jene vielstimmige Prosa mit farbigen Aquarellen, welche das Geschriebene illustrieren und illuminieren. Bei aller Liebe für die Malkünste des Autors: Diese auch für Grass neue Kunstform wirkt zunächst gewöhnungsbedürftig. So wird sich der eine oder andere Betrachter möglicherweise mit Wehmut der filigraneren Rötel- und Federzeichnungen aus früheren Jahren erinnern. Um so überzeugender liest sich der Text dieses vielstimmigen, vielschichtigen und dennoch konzentrierten Buches.

Neben Ereignissen aus Wissenschaft, Sport, Wirtschaft und Alltagskultur sind es immer wieder die unser „zänkisches, streitbares und mörderisches Jahrhundert“ prägenden Kriege, die es - wie Grass in der Blechtrommel bereits formulierte - zum „tränenlosen Jahrhundert“ werden ließen. Über den Ersten Weltkrieg läßt der Literat die zwei gegensätzlichen Kollegen Remarque und Jünger streiten, über den Zweiten erzählt ein Frontberichterstatter des „Völkischen Beobachters“. Durch die Arbeit am Buch ist dem Autor nach eigener Aussage nochmals klar geworden, „daß Deutschland in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts die Geschichte bestimmt hat. Die Aktionen, bis ins Mörderische hinein, gingen von Deutschland aus. Und die zweite Hälfte, nach 1945, ist Reflex auf das, was geschehen war, oder Reflex auf das, was außerhalb Deutschlands geschah, z.B. auf den Vietnamkrieg oder den Falklandkrieg. Die Kriege haben ja nie aufgehört“. Die Zeit bezeichnete das neue Werk gar als ein „von Grund auf deutsches und Grassisches Erfahrungs- und Erzählbuch: [...] Zeppelinflüge, die Erfindung des Radios, apokalyptische Stimmungsbilder und Menetekel des Ersten Weltkriegs, [...] Nazitum und Nachkriegsära, Ulkiges und Fatales, Verqueres und Ermutigendes aus der langwierigen deutschen Wiederaufbau- und Wiederfindungsphase“.

Das Buch vereint in seiner Vielstimmigkeit komische, ironisch-satirische, ernste und hintergründige Töne, die der nun zum Nobelpreisträger Gekürte seinen Prominenten und Jedermännern, Männern und Frauen, Konservativen und Progressiven, Jungen und Alten, fiktiven Zeitzeugen und historisch belegbaren Augenzeugen in den Mund legt. Es sind - Grass’ Geschichtsverständnis folgend - all dies Personen, denen Geschichte widerfuhr und die nicht als Hauptakteure agierten. Auch der Autor mischt sich als Erzählender („Ich, ausgetauscht gegen mich, bin Jahr für Jahr dabei gewesen.“) erstmals 1927 im noch „embryonalen Zustand“, 1938 als Schüler, am 17. Juni 1953 als Beobachter auf dem Potsdamer Platz und später als Willy Brandts Wahlkampfhelfer oder als vom Mauerfall überraschter Radiohörer - unter die Erzähler. Ein Verfahren, das er bereits im Butt erprobte und das gefiel. Insofern ist dieses Buch natürlich auch eine Form von autobiographischer Bilanz, ebenso wie auch die persönliche Geschichte eines nicht unbedeutenden deutschen Autors, seit kurzem zudem Nobelpreisträger. Und da es nicht nur s e i n, sondern u n s e r aller Jahrhundert ist, wird es nicht zuletzt aufgrund der ihm innewohnenden Aktualität und literarischen Qualität seine Leser finden.

Was sich im Rahmen der Leipziger Buchmesse bereits ereignete, nämlich daß ein trotz ungebrochenen Tabakkonsums ungebrochen jung erscheinender und dennoch nicht mehr ganz junger Autor sein junges wie altes Publikum in überfülltem Saal zu begeistern verstand, setzte sich nun in Frankfurt fort und wird sich in anderen Städten der bis Ende des Jahres geplanten Lesereise wiederholen. Denn es gibt noch einen größeren Genuß als Grass-Bücher zu lesen: Grass Grass-Bücher lesen zu lassen. Man sollte sich dies Vergnügen nicht entgehen lassen. Für wahre Furore sorgte hier jener mit dem Jahr 1970 überschriebene Text, der über den zum politischen Symbol gewordenen Kniefall Willy Brandts in Warschau aus der Sicht eines konservativen Journalisten berichtet. Vielleicht ist dies nicht nur der stilistisch brillanteste Text des Bandes, sondern auch derjenige, welcher noch einmal deutlich Grass’ eigentliches schriftstellerisches Anliegen - nämlich die Versöhnung von Polen und Deutschen - zum Ausdruck bringt. Nach einer Überschrift suchend („Irgendeinen Schmus wollen die haben. Sowas wie ,Nahm alle Schuld auf sich ...‘ oder ,Plötzlich fiel der Kanzler auf die Knie ...‘ oder noch dicker aufgetragen: ,Kniete für Deutschland!‘“), ereifert sich Grass‘ Boulevard-Journalist über die „Extratour“ seines Kanzlers: „Gekonnt aus den Kniekehlen raus geht er runter, behält dabei die Hände verklammert vorm Sack, macht ein Karfreitagsgesicht, als wäre er päpstlicher als der Papst, wartet das Klicken der Fotografenmeute ab, dann wieder nicht etwa auf die sichere Tour - erst das eine, dann das andere Bein -, sondern mit einem Ruck hoch, als hätt er das trainiert, tagelang vorm Spiegel, zack hoch, steht nun und guckt, als wär ihm der heilige Geist erschienen, über uns alle weg, als müßt er nicht nur den Polen, nein aller Welt beweisen, wie fotogen man Abbitte leisten kann. Na ja, gekonnt war das schon. Sogar das Sauwetter spielte mit. Aber so, hübsch schräg auf dem zynischen Klavier geklimpert, nimmt mir das meine Zeitung niemals ab, selbst wenn unsere Chefetage diesen Kniefallkanzler lieber heut als morgen weg hätte.“

„Die Zeit“ fragte anläßlich eines jener seit Ende der 70er Jahre zur Tradition gewordenen Übersetzertreffens danach, ob „das deutsche Erfahrungsbuch Mein Jahrhundert [...] zu einem Weltbuch werden“ könnte. Die Ereignisse der letzten Tage lassen vermuten, daß diese Frage - trotz Marcel Reich-Ranickis Einspruch - mit einem „Ja!“ beantwortet werden muß. Vielleicht wird der Aufsatz über die „Selbstkritik des Blechtrommel-Kritikers“ in Bälde eine Neuauflage in Form einer „Selbstkritik des Mein Jahrhundert-Kritikers“ erleben dürfen? Wünschen wir dem Nobelpreisträger Günter Grass und seinem Verleger diesen Erfolg!

Günter Grass:
Mein Jahrhundert
Steidl Verlag, Göttingen 1999, 416 S.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11+12/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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