Eine Rezension von Hans-Rainer John


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Ein Zweikampf um die Selbstbehauptung

 

Gerhard Kelling: Beckersons Buch
Roman.

Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1999, 272 S.

 

Gerhard Kelling (57), bisher bekannt als Theatermann (Dramaturg, Regisseur) und Theaterschriftsteller (Theaterstücke, Kinderstücke, ein Libretto, Hörspiele), hat hier seinen ersten Roman vorgelegt. Es ist ein durchgängiger, durch nichts objektivierter Bericht eines gewissen Walter Levinson. Dieser junge Mann, freiberuflicher Journalist, finanziell chronisch klamm, erzählt, wie er sich auf Grund einer Anzeige, die in allgemeinster Form irgendeine Tätigkeit anbot, bewarb. Er erhielt Rückantwort von einer Schweizer Firma, er sei unter den ausgewählten Kandidaten und werde vertraulich überprüft. Da die Arbeit immer noch nicht konkret umrissen worden war, zog Levinson die Bewerbung zurück, der Widerruf aber erwies sich als unzustellbar, die Schweizer Firma als eine Scheinadresse.

Wenig später erhielt er anonym eine genau terminierte Bahnfahrkarte, Hamburg-Hannover hin und zurück (er machte davon Gebrauch), am gleichen Tag erhielt dort der berühmte Schriftsteller Jon Kremer einen Preis der Landeshauptstadt. Dann wieder wurde ihm ein Buch Kremers übermittelt (er las es, studierte Werk und Wesen des Autors). Schließlich traf ein Paket mit einer Pistole ein (widerstrebend machte er sich mit der Waffe vertraut). Eines Tages wurde ihm ein Zettel mit dem Hinweis auf Seite 234 im Kremer-Buch zugespielt (er schlug nach, sie enthielt die Schilderung einer Hinrichtung). Er machte die nähere Bekanntschaft einer Dame (sie erwies sich als ehemalige Freundin Kremers). Inzwischen hatte sich seine finanzielle Situation gebessert; verloren gegebene Außenstände gingen plötzlich ein, neue Verträge wurden angeboten, anonyme „Spenden“ fanden sich in der Post.

Levinson beschreibt bis ins kleinste Detail sein empörtes Aufbäumen angesichts jeder neuen Zumutung, das folgende Nachdenken, die Untersuchung des theoretischen Ansatzes, sein geistiges Interesse, sein Einlenken und Nachgeben schließlich und am Ende das Gefühl der Genugtuung, ja des Genusses beim praktischen Vollzug bei gleichzeitigem Abbruch aller bisherigen Beziehungen, um den dubiosen Kontakt zu dieser anonymen Instanz, die er inzwischen „Beckerson“ getauft hatte, im dunkeln zu halten. Bis hierher handelt es sich um die glänzende und geistig-scharfe Darstellung einer Manipulation, die sich der langen, glatten, eleganten Sätze wegen auch hervorragend liest, obwohl einige Längen, einige Wiederholungen und hier und da ein Verharren auch im Nebensächlichen nicht zu übersehen ist. Wie die freiwillige Übernahme fremden Willens, der Einstieg in eine andere Gedankenwelt, der Übergang zu bedingungsloser Gefolgschaft funktioniert und praktische Folgen hat, wird hier ganz und gar überzeugend dargestellt. Der Reiz der Verführung und die Gefahr der Selbstaufgabe werden unmittelbar erfahrbar.

Leider folgt keine Steigerung. Unseren Helden erreicht eine Telefonstimme, es sei nun soweit mit Kremer, und in Levinsons Kalender ist von fremder Hand bereits ein Termin eingetragen: Mittwoch 10 Uhr. Nun weiß er, daß von ihm ein Mord erwartet wird. Das ist zuviel für ihn. Da er „Beckerson“, seinen Widerpart, nicht stellen kann, flieht er aus der Stadt (Hamburg), aus dem Land. An der französischen Atlantikküste erfährt er aus der Zeitung, daß Kremer an ebenjenem Mittwoch nachmittags tot aufgefunden wurde. Er fährt zur Beerdigung, versinkt in seine selbstverschuldete Einsamkeit, mittlerweile plagt ihn auch die materielle Unsicherheit seiner Lage wieder, Verzweiflung und Lebensangst erfassen ihn ganz und gar. Als er mit einer Mietjolle auf der Alster zugange ist, fühlt er sich von „Beckerson“ verfolgt. Als ihn das andere Boot zu rammen droht, erschießt er den Segler und wirft die Pistole hinüber zu ihm ins Boot.

Deshalb berichten anderen Tags die Zeitungen über einen Selbstmord auf der Alster, und Levinson geht - und das ist die „kleine“ und etwas enttäuschende Lösung - ein Gepäckschein zu: „Einzulösen im Falle meines Todes“. Das Paket enthält das Manuskript eines Buches, in dem der Tote, den Levinson „Beckerson“ nannte, minutiös die ganze Handlungslinie Levinsons nachgezeichnet, ihm den Tod Kremers angelastet und festgehalten hat, er wolle im Selbstmord auf der Alster enden. Nun offenbart sich auch, daß es sich um einen Mann namens Anhäusser oder Althäuser gehandelt hat, einen kleinen Behördenangestellten und dilettierenden Schriftsteller, der Kremers Ruhm nicht ertragen konnte und sich den raffinierten Plan zurechtgelegt hatte, den Dichter ungestraft durch ein ferngelenktes Werkzeug umbringen zu lassen.

Nein, dieses Ende, in seiner Umständlichkeit und Ausführlichkeit kaum noch interessant (dazu gehört ja noch, daß nun auch Levinson seinen Anteil gesteht, keinen Glauben findet und in der Psychiatrie endet), ist im Verhältnis zu den vorausgegangenen Ereignissen, die Erwartungen in ganz anderer Dimension freigesetzt haben, einfach zu banal. Die Wahnsinnstat eines Verrückten, in dem Bewunderung, Neid und Haß Mordgelüste freisetzen, ist ein individueller Sonderfall, ist ohne gesellschaftliche Relevanz. Schade, denn zuvor sah sich der Leser verführt, das Walten mächtiger Interessengruppen zu vermuten, denen mehr als Psychologie und psychischer Druck zu Gebote gestanden hätte. Er war irgendwie vorbereitet auf eine zweite Runde der Auseinandersetzung, auf höherer Ebene sozusagen. So aber bleibt nur ein Zweikampf außerhalb der Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft, in dem es keinen Sieger gibt.

Ungeachtet dieser Einschränkungen bleibt Kelling nach diesem Debüt eine große Hoffnung für die Romanliteratur.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11+12/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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