Eine Rezension von Alexander Gumz


Die Oberfläche des Spiegels

Durs Grünbein: Nach den Satiren
Gedichte.

Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1999, 250 S.

Doch nur einer verstellt sich vorm Spiegel,
allein mit sich selbst.
Er spinnt, von der Gattung beschattet, Intrigen.
Durs Grünbein

Vor acht Jahren hieß es in Schädelbasislektion vom „cartesianischen Hund“: „Müde der leeren Himmel, die Kehle blank / Gehorcht er dem Ersten das kommt und ihn denkt.“ Descartes als Denker des Cogito war immer Grünbeins Antipode, doch die Sehnsucht nach dem unmöglich Gewordenen, der Einheit des Subjekts, blieb. Jetzt scheint es Durs Grünbein zu sein, der von etwas gefunden und gedacht wurde.

Vom ersten Band Grauzone morgens an ringt Grünbein um Form, um Ordnung. Auf der Suche nach etwas, das der eigenen Fragmentierung in Stimmen, in fremde, selbsteingeflüsterte Gedanken, entgegengesetzt werden kann. Ordnung, ohne einem unreflektierten Klassizismus zu erliegen. Das Mitstenographieren der Welt geschieht seit damals in zunehmend strengeren Formen.

Die Manie der Schädel und Nerven, der Versuch, den Menschen auf das vermeintlich Nichtmetaphysische des Körpers zu reduzieren, tritt in den Hintergrund. Auch die Sehnsucht danach, nicht mehr Subjekt sein zu müssen. Beides verlagert sich in die Form der Gedichte: Die Stilleben In der Provinz, die Rollengedichte der Historien.

Die Lust an der Pointe, die manchmal zur Zote wird, entfaltet sich dort in erfundener Vergangenheit. Das Schreiben entzündet sich daran, die Überfarbigkeit der Bilder in kühler Sprache aufzufangen. Sie gewinnen ein halluzinatorisches Eigenleben, wie etwa im Bericht von der Ermordung des Heliogabal. Davon wird die Sprache der Gedichte getrieben. Die Form wird Begrenzung und Durchlaß zugleich: ein Gefäß, durch das die Worte rinnen können.

Die Stationen in Nach den Satiren: das Rom der Antike, Venedig, Hollywood, Dresden, Berlin. Venedig ist Zeichen des Verfalls, der Unterhöhlung, aber auch des touristischen Handels damit, also Unterhöhlung des Verfalls. Dresden und Berlin: die Heimat überrollt, die Jugend vorbei, eine Welt zusammengebrochen; die Wahlheimat im Umbruch, eine Stadt voller Versprechen und Selbstbetrug. Grünbeins Rom ist häufig nichts als Berlin oder New York mit Toga.

Hollywood ist der „Mythos“ („einer von den neuen“), den man aufsucht, um sich von ihm zu befreien. Doch die Faszination bleibt. Hollywood ist der Ort, an dem die Inszenierung ihren Höhepunkt erreicht, die Oberfläche gefeiert wird, wo man am deutlichsten Illusion und Realität ineinanderschlagen sieht. Daher die Ambivalenz, mit der Grünbein mit Oberfläche, den Fundstücken der Worte und Bilder umgeht. Es ist schwer zu unterscheiden, was Zeichen ist und was nur ein Stock.

(Normandie)
Eingefallen am Bahndamm,
liegt ein Hundekadaver, quer im Gebiß
Kreiseweiß numerierte Schwellen, erstarrt.

Je länger du hinsiehst, je mehr
Zieht sein Fell in den Staub ein, den Schotter
Zwischen den Inseln aus frischem Gras.

Dann ist auch dieses Leben, ein Fleck,
Gründlich getilgt.

Der Beginn also In der Provinz. Kein Stimmengewirr bricht ein. Der Blick fällt ungestört auf den Kadaver eines Hundes. Was in dieser biotopen Stille erscheint, ist alles andere als idyllisch: natura morte im Wortsinn, die Gleichgültigkeit der Natur. Die Geschichte ein Versickern im Boden, das keine Spuren hinterläßt.

Die Vergangenheit, in der man sein Selbstverständnis daraus beziehen konnte, weder zum einen Land noch zum anderen zu gehören, ist verloren. „Glücklich war ich in einem Niemansland aus Sand / War ich ein Hund, in Grenzen wunschlos, stumm“, heißt es im „Portrait des Dichters als junger Grenzhund“ in Schädelbasislektion. Die Geschichte schreibt diese Geschichten fort. Die einzelne ist ihr Spielball, aber sie ist nichts als das Leben der einzelnen.

Der Grenzhund, als der Grünbein in Schädelbasislektion auftaucht, der Dichter zwischen den Fronten, aus Funktionen und Gemeinschaften ausgeschlossen, keiner Zeit wirklich zugehörig, der Körper fremd, keine Stimme die eigene, er liegt im ersten Gedicht von Nach den Satiren tot, irgendwo in der Normandie.

Fantasiestücke, halb durchgeführte Terzinen, Liedstrophen inmitten langzeiliger Gedichte, Sonette in ungewohntem Druckbild, mal fünf-, mal sechshebig, schnoddrige Hexameter. Grünbein reagiert auf den Verlust der Vergangenheit mit klassischer Formstrenge oder genauer: mit ihrer Erfindung.

In Falten und Fallen hatte er noch Pseudo-Sonette geschrieben. Sonette, die zwar das Metrum einhielten, sich aber nur auf den letzten beiden Zeilen reimten. Das war nicht ungenau: Die Form war als Zitat erkennbar, der historische Abstand kenntlich gemacht. In Nach den Satiren gibt es mit den „Nachbildern“ jetzt durchgereimte Sonette. Hin und wieder ist unklar, wie weit Grünbein den historischen Abstand, die Differenz von Gestus, Inhalt und Form noch mitreflektiert wissen will. Langsam wächst die Maske an.

Viele Gedichte wirken nach wie vor durch das Ineinander von prosaischer Sprache und strenger Form. Hin und wieder entgleitet diese Methode zum bloßen Nebeneinander oder zum reinen Erzählton. Ein Ton, der keine Brüche mehr kennt, keine Gegenstimmen, die ihn korrigieren könnten. „Wer den Kopf verliert, / dem sind die nächsten Schritte ungewiß. So sucht er Stützen, / In dem was war. Nur auf Verlassenheit ist dann Verlaß.“

Und der Körper altert. Das Vergehen der Hülle, die in früheren Gedichten eine Metaphysik des Physischen etablierte, einen nicht weiter reduzierbaren physiognomischen Rest, sprengt für kurze Momente die Distanz zum Wahrgenommenen, zu sich selbst. „Was sind Gedichte / Gegen die Folter im Hirn, das Ächzen im kranken Leib?“ Der Dichter erschrickt, morgens den eigenen Körper zu sehen, der ihn im Stich läßt.

Auch dieses Kinn, das du manchmal im Spiegel siehst,
Wird man irgendwann finden, den Kiefer dazu,
unter anderen Knochen. Heute noch unrasiert,
wird es schon morgen abstrakt sein, ein weißer Bügel,
rein wie ein Notenschlüssel aus Draht.

In einem Spiegel zeigt uns Grünbein, welche Utopie noch bleibt: klare, menschenlose, kühle Präzision des Unorganischen, des Knochens, in die Funktionalität eines Instruments gehoben - eines vollendeten Instruments, weil es keinen Aufgabenbereich mehr hat.

Grünbein scheint in einer Art selbsterfundener Klassik einen Weg gefunden zu haben, die Sprache ins Rollen zu bringen. Sie bleibt oft seitenlang in Bewegung. Bei großer Virtuosität ist die Suada nicht weit. In den „Veneziana“ etwa oder im „Denkmal für einen Fuß“ bricht eine Kluft zwischen Ton und Gegenstand auf. Der Manierismus ist dort keine bewußt eingenommene Pose, kein Aneinanderreiben der Gegensätze mehr, sondern Beliebigkeit. Mit seiner Sprachmaschinerie könnte Grünbein dann eigentlich alles bedichten.

Vielleicht steckt wirklich eine Sehnsucht nach Handwerk hinter diesen Gedichten: eine Sprache zu haben, die einem im Mund liegt wie dem Fotografen die Kamera in der Hand.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11+12/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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