Eine Rezension von Elfriede Brüning


Lebenswege

Jana Göbel/Wilfried Maier: Vaterland - Tochterland

Karl Dietz Verlag Berlin, Berlin 1999, 319 S.

 

Dies ist ein erstaunliches Buch. Der 66jährige Wilfried Maier und seine Tochter Jana, Jahrgang 1962, berichten über ihre Erfahrungen in den letzten zehn Jahren, und was so entstanden ist, gehört zu meinen spannendsten Leseerlebnissen der letzten Zeit. Die Aufzeichnungen beginnen noch zu Zeiten der DDR, in den letzten wirren Monaten vor ihrer Auflösung, als Hunderttausende über Ungarn in den Westen flohen, das Volk in Leipzig und anderswo auf die Straße ging und das Politbüro in lähmendes Schweigen verfiel. Wilfried, der Vater, ist damals noch als Stellvertreter des Ministers für Finanzen und Preise tätig. Er bestimmt die Preise für den Golf und den Trabbi, für Textilien, Exquisit-Schuhe und für Waschmaschinen. Aber er sieht auch mit wachsender Besorgnis, daß sich die DDR die staatlichen Zuschüsse u. a. für S- und U-Bahn-Fahrten, für Kinderkleidung und Mieten, die mit 65 Milliarden ein Viertel aller Ausgaben für den Staatshaushalt betragen, nicht mehr lange wird leisten können. Er schreibt Eingaben über Eingaben ans Politbüro, macht Vorschläge zur Reform der Preispolitik, die Honecker aber mit einem Federstrich beiseite fegt. „Ich lasse mir von euch (dem Preisamt) doch nicht meine gute Politik kaputtmachen.“ Da beugt sich Wilfried Maier der Parteidisziplin und arbeitet weiter wie bisher - bis ihm das Finanzministerium am 2. Oktober 1990, sozusagen aus Anlaß der deutschen Wiedervereinigung, den Stuhl vor die Tür setzt: Er könne nach Hause gehen. Da rafft er an seinem Arbeitsplatz alles zusammen, was sich an Persönlichem in den Jahren seiner Arbeit dort angesammelt hat, vom SED-Mitgliedsbuch bis zu Urkunden und Auszeichnungen, packt alles in seinen Lada und begibt sich nach Hause in ein Rentnerdasein, in dem er sich, als Empfänger einer Strafrente, nun irgendwie zurechtfinden muß. Zunächst begehrt er noch auf, verschickt Bewerbungen, wird aber immer wieder abgelehnt. „Ich will aber noch nicht aufs Altenteil“, heißt es im Text, „will nicht reduziert sein auf Hecken schneiden und Auto pflegen. Will nicht zum Opa werden, der nur noch die Wünsche der Enkel erfüllt ...“

Zweifellos sind die Fünfzig- bis Sechzigjährigen die eigentlichen Verlierer der Einheit. Auch Erika, Wilfrieds Frau und ehemalige Dozentin an der Hochschule für Ökonomie, wird abgewickelt. Da ist Jana, die Tochter von beiden, besser dran. Die gelernte Melkerin hat mit 19 ihr Abitur nachgeholt, mit 23 ihr Wirtschaftsdiplom abgelegt und dann in einer LPG (landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft) gearbeitet. Sie hat geheiratet und zwei Kinder zur Welt gebracht. Kurz vor der Wende kündigt sie ihre Arbeit bei der LPG als Betriebsökonomin auf und sucht sich eine Beschäftigung in Berlin. „Nach monatelangem Baby-Alltag habe ich Lust auf einen Neuanfang“, schreibt sie. „Arbeit gibt es genug, überall werden Leute gesucht, Kinder sind kein Hindernis.“ Sie unterschreibt einen Vertrag bei der Bauernzeitung, wird der Leserbrief-Redaktion zugeteilt und hofft, später einmal Artikel über die Landwirtschaft schreiben zu können.

Die „Wende“ eröffnet ihr weitere Möglichkeiten. Sie nimmt, als einzige Ostdeutsche, an einem Journalisten-Lehrgang in München teil. „Was ich mache und sage“, notiert sie hier, „ist aus Mangel an weiteren Vergleichspersonen erst einmal typisch ,Ost‘. Ich sage zum Beispiel ,schau‘ für prima, sage wieder einmal ADN statt dpa, und zack, schon bin ich erkannt! Ich lerne von meinen Mitschülern, daß Möhren nun Karotten sind; daß ich sehr wohl bei Aldi einkaufen darf, es aber nicht jedem erzählen muß; daß ich, falls ich schwanger bin, es auf Arbeit keinem erzählen darf, weil man mich sonst sehr schnell entlassen kann. Ich lerne, daß ich jetzt Journalistin bin und kein Journalist, und mein Kollektiv heißt jetzt Team.“

Aber Jana ist eine gelehrige Schülerin, und da sie auch, wie es scheint, ein Glückskind ist, erhält sie nach Beendigung des Lehrgangs sofort eine Anstellung beim ORB, geht auf Reportagefahrten, die sie, wiederum ein Glücksfall, unbesorgt unternehmen kann, da ihr Mann, der als Heimarbeiter am Computer sein Geld verdient, ihr alle Familienpflichten willig vom Halse schafft. Zum Glück versperrt ihr der neue Wohlstand nicht den Blick auf die Realität, und so verfolgt sie kritisch die Arbeit der Treuhand, die den Lebensnerv von 16 Millionen Menschen in ihren Händen hält, eigentlich bestehende Arbeitsplätze sichern und neue schaffen soll, doch genau das Gegenteil tut. 14 000 Betriebe hat die Treuhand privatisiert, abgewickelt oder liquidiert, läßt Jana uns wissen, darunter ein Kaltwalzwerk aus der Umgebung, das die DDR erst 1986 für 50 Millionen D-Mark mit Westtechnologie auf den neuesten Stand gebracht hatte. Der neue Besitzer Krupp läßt den Betrieb abreißen, verkauft die Maschinen nach China und die 220 000 Quadratmeter große Betriebsfläche an eine Handelskette. Jana interviewt einen Mitarbeiter, der seinerzeit die neue Maschinenhalle mit aufgebaut hatte und nach dem Abriß nun das Einkaufszentrum hier errichten soll. Die übrigen 1 200 Arbeiter schulen um auf Versicherungsagent oder Finanzberater, errichten eine Imbißbude oder Videothekenbar oder, falls ihnen das Kapital dafür fehlt, reihen sich ein in das 4-Millionen-Heer der Arbeitslosen.

Wilfried Maier, dem Vater, gelingt es von Zeit zu Zeit, sich einen Privatauftrag von Firmen an Land zu ziehen. Ehefrau Erika ist aktiv in der Politik. Beide versuchen so, ihrem Leben durch Arbeit noch einen Sinn zu geben. An den Geburtstagen bewirten sie langjährige Freunde. Fast alle sind nun Rentner, und die Wenigen, die noch in Arbeit stehen, schweigen darüber aus Rücksichtnahme, um nicht an alte Wunden zu rühren. „Denn es schmerzt nicht allein der Verlust der Arbeit“, schreibt Jana, „es tut auch weh, wenn das Lebenswerk im nachhinein verurteilt und belächelt wird, ohne daß man noch etwas korrigieren kann.“ Sie wüßten ja alle um ihre Fehler, stellt sie weiter fest, aber sie wüßten noch immer nicht, wie sie es besser hätten machen können. Übrigens redeten sie kaum noch von früher. Sie alle lebten in diesem neuen Staat wie Fremde, die ihre Heimat verloren hätten und nicht richtig dazugehörten.

Jana indes, die Tochter, scheint angekommen, denn auch ihr weiterer Lebensweg verläuft stolperfrei. Da nicht nur sie als erfolgreiche Journalistin, sondern auch ihr Mann Arbeit hat und gut verdient, können sie schon bald die ererbte Laube zum Einfamilienhaus ausbauen, und zuletzt kokettieren sie sogar mit dem Erwerb eines schöneren Hauses. Alles Dinge, von denen andere Dreißig- bis Vierzigjährige, die sich von Umschulung zu Umschulung hangeln, nur träumen können. Oder sehe ich zu schwarz? Und wie, wenn man dem Buch noch ein „Enkelland“ angefügt hätte, Berichte der Jüngsten also, die, aus der Schule entlassen, nicht einmal einen Ausbildungsplatz finden und ohne jede Perspektive sind?

Janas Freundin Martina, Chefredakteurin der Zeitschrift „Das Magazin“, hat dem Buch ein Vorwort vorangestellt. Sie hat auch lange Passagen des Buches im „Magazin“ vorabgedruckt- eine nicht zu verachtende Werbung also, die sich wohltuend abhebt von der üblichen Praxis, Neuerscheinungen aus dem Osten bestenfalls mit einer 10-Zeilen-Rezension abzutun. Aber Vaterland - Tochterland verdient es auch, beachtet und - vor allem - gelesen zu werden.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11+12/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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