Eine Rezension von Ursula Reinhold


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Familienbild mit Jubilar

 

Franz Josef Degenhardt: Für ewig und drei Tage

Aufbau-Verlag, Berlin 1999, 352 S.

 

Der vor allem als Liedersänger bekannte Autor legt hier bereits seinen siebenten Roman vor, der wiederum vom Aufbau-Verlag publiziert wird. Er kehrt mit diesem Familienpanorama in die Region seiner Herkunft, das Ruhrgebiet, zurück. Hier kennt er sich bei Land und Leuten aus, macht das Nebeneinander von patriarchalischem Familienbesitz und ständigem regionalem und sozialem Wandel anschaulich. Der Roman gibt ein Familienpanorama des verzweigten Familienclans der zur Linden, einer im Ruhrgebiet ansässigen Familie, die, vermögend und einflußreich, maßgeblich die Geschicke der Region mitbestimmt. Auf der Lindenburg, dem Stammsitz der Familie, treffen aus Anlaß des 95. Geburtstages von Karl Walter zur Linden, des Patriarchen, die Mitglieder der Familie ein. Sie kommen drei Tage im August 1991 zusammen, während im fernen Moskau Gorbatschow durch einen Putsch gestürzt und das endgültige Ende der Sowjetunion eingeläutet wird. Grund für die Enkelin des Alten, die zum Oberhaupt des Familienvermögens gemacht wird, die vom Kurssturz betroffenen Aktien zu erwerben, auf kräftige Gewinne hoffend. Mit den Kindern treffen fünf Generationen zusammen, drei sind aktiv als Ärzte, Juristen, Finanzfachleute, Wirtschaftsleute tätig, und sogar ein Erzbischof ist unter ihnen. Es gibt neben dem Familienzweig beim Stammsitz einen süddeutschen, einen amerikanischen, südamerikanischen und einen belgischen Zweig der Familie. So ungewiß die Herkunft des Vermögens ist, so unüberschaubar der verzweigte Clan, von dem wir im Roman glücklicherweise nicht alle kennenlernen müssen, die in der Ahnentafel im Innenblatt des Schutzumschlages verzeichnet sind. Degenhardts Erzählen läßt ein Gruppenbild mit Jubilar entstehen, eine Familienfeier mit historischer Tiefenschärfe, in der nicht nur die Ambitionen und Intentionen der unterschiedlichen Generationen und einzelner Familienmitglieder beleuchtet werden, sondern auch Streiflichter auf das historische Panorama der deutschen Geschichte gegeben werden. Da ist Hans-Walter, Hawa, in vielen Zügen ein Alter ego des Autors, der die Familiengeschäfte an die geschäftstüchtige Tochter übergibt, die nicht mehr an den konservativen Vermögensvorstellungen ihrer Vorfahren hängt, sondern durchaus zu risikoreicheren Börsenunternehmungen neigt. Das Familienvermögen weiß man bei ihr, trotz der Neigung zu unkonventionellen Partnerschaften, in rührigen Händen. Im Gegensatz dazu Hawas Schwester Anette, einst Frau eines italienischen Brigadisten, die nach einer abenteuerlichen Terroristenlaufbahn in der DDR Zuflucht gefunden hatte und nach deren Zusammenbruch in den Schoß der Familie zurückgekehrt ist. Aus Verzweiflung über das Geschehen in Moskau versucht sie, sich das Leben zu nehmen, wird aber gerettet und widmet sich zukünftig dem biologischen Landbau. Da ist Hawas fünf Jahre jüngerer Bruder Hans-Joachim, der Finanzminister der Familie, mit seinen bizarren sexuellen Neigungen. Und da ist schließlich der geistliche Zweig der Familie, in dem nicht nur christliche Nächstenliebe, sondern auch Berechnung, exzentrische Neigung und Lebensgier anzutreffen sind. Bei aller Unterschiedlichkeit ihrer politischen Vorstellungen und sozialen Interessen bleibt die Erwirtschaftung von Gewinn, der Zusammenhalt des Familienvermögens und dessen Mehrung die Voraussetzung für Macht, Einfluß und Bestand, die Gewähr dafür, daß man auf ewig dabeizusein hofft, mit wech selndem Engagement an Zeitläufe und Zeitgeist. Lisa Saremba, eine außerhalb der Familie stehende Figur, die aus früheren Romanen des Autors als aus kommunistischer Familie stammend bekannt ist, wird jetzt als Sozialarbeiterin eingeführt. Sie bringt die Verwunderung auf einen Nenner, die mich angesichts dieses absichtsvoll widersprüchlichen Figurenpanoramas auch beschäftigt hat. „Nie, sagte Lisa, habe sie verstanden, oder besser gesagt, sie habe sich immer gewundert, wie man das alles unter einen Hut kriege: Katholizismus und Vielweiberei, Seminarmarxismus und kapitalistische Praxis, plebejische Vorlieben und großbürgerliche Lebensweise, Engagement für Depravierte, Asylanten, Antifas, geschlagene Frauen und Kinder und für Vermieterhaie, Bänker, Kofmichs, White-collor-Verbrecher der schlimmsten Sorte.“

Die Familienfeier endet mit Schüssen auf den Jubilar, mit einem Feuerwerk und einem Brand in den Ställen. Unaufgeklärt, gelten solche Ereignisse als Vorzeichen dafür, daß die Geschäftsinteressen der Familie, deren Immobiliengeschäfte und Bebauungspläne auch Vertreibungen anderer in der Stadt einschließen, doch nicht immer so ungestört ablaufen werden, wie man es sich in ihrem Kreise wünschen mag.

Der Erzähler Degenhardt zieht alle Register, wenn er von den plebejischen Vorlieben und Schrulligkeiten seiner Figuren erzählt: von dem an die Hungerjahre erinnernden Menü, das auf Wunsch des Jubilars aus Steckrübensuppe, Hasenpfeffer auf kriegsgemäße Art, Bleichzichoriengemüse und Buttermilchgraupen besteht und auf dem es Faßbrause als Weinersatz gibt, von dessen Vorliebe für die Musik der Beatles, die von einem böhmischen Streichorchester dargeboten wird, im Frack. Aber auch die Erzählungen über das neapolitanische Feuerwerk und die Heiligenerscheinung bei Tische (die liebestolle Bärbel trägt die Wundmale des Herrn), über sexuelle Neigungen und Verirrungen, z.B. den pädophilen Vorlieben des Familienfinanzministers, von den letzten Lebenszuckungen des schrulligen Alten, von Anne-Catherines lesbischen Verbindungen samt Eifersüchteleien, von Hawas Seitensprüngen und den Pannen, die es dabei gibt. Auch die Erzählungen über die verschiedenen Todesfälle, über Selbstmord, Unfall, rätselhaftes Ende, von denen am Schluß des Romans, beiläufig fast, berichtet wird, verraten Lust am Bizarren, Grotesken, Auffälligen. Mit seinem derb-pointierenden, ausschweifenden Erzählen bietet Degenhardt ein Feuerwerk sinnlicher Vergegenwärtigung, läßt eine Fülle von gewöhnlichen und ungewöhnlichen Lebensäußerungen anschaulich werden. Mir war diese barocke Üppigkeit zuviel, ich lese lieber richtige Sätze, die zu einem aussagenden Ende kommen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11+12/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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