Eine Rezension von Bernd Heimberger


Schüchtern und stolz

Anton Cechov: Briefe
Herausgegeben und und übersetzt von Peter Urban.

Diogenes Verlag, Zürich 1998, 5 Bände

 

Auch das ist immer wieder nur zu wiederholen: Die beste Biographie ihres Lebens schreiben Schriftsteller selbst. Mit jedem Buch. Jedem Tagebuch. Jedem Brief. Briefe können die persönlichste, direkteste, ehrlichste Biographie sein. Festzustellen, daß die Brief-Biographie des Anton Cechov nur gut ein Vierteljahrhundert währte, mag zunächst irritieren. Zur Erinnerung: Der geniale Charakter-Gestalter wurde nur 44 Jahre. Die fünfbändige Ausgabe der Cechov-Briefe umfaßt also „nur“ den Zeitraum von 1877-1904.

Die ergiebige Edition beginnt mit einer Epistel des fast 17jährigen an „Bruder Miša“: den Cousin Michail. Das Schriftstück ist keine simple Mitteilung. Es ist eine einschmeichelnde Unterhaltungsschrift. Cechov kokettiert mit seiner Begabung, Gott und seine menschlichen Geschöpfe mit heiterem Hintersinn zu attackieren, damit er ihre Schwächen und Schwachheiten nicht gutgläubig verteidigen muß. In einer drei Jahre später verfaßten Korrespondenz attestierte Cechov einem ehemaligen Schulfreund: „Deine Briefe bereiten mir Vergnügen.“ Das läßt sich, grundsätzlich, auch von den Briefen des Anton Cechov sagen. Sie bereiten Vergnügen. Von Anfang an. Was ein wahres Dilemma ist. Wie denn wieder von dem Vergnügen lassen, das soviel Zeit und Zeit und Zeit frißt? Und nicht nur vergnügliche Zeit garantiert. Sich dem Vergnügen hemmungslos hingeben? Das hieße, ein Lesewerk für sämtliche Wintermonate zu haben, das auch noch für Frühjahr und Sommer und Herbst reicht.

Sich auf die Briefe Cechovs einzulassen bedeutet, in die tiefsten Tiefen des weiten Cechov-Sees hinabzutauchen. Mit dem Lesen der puren Postillen ist es kaum getan. Wer glaubt, schnell über Zeitgeschichtliches wie unbekannte Zeitpersonen hinweglesen zu können, wird durch die immer wieder angestachelte Neugier dazu gedrängt, erläuternde und ergänzende Anmerkungen zu lesen. Knappe Notate, die einen nicht unerheblichen Teil der fünf Bände ausmachen, stören nicht den Unterhaltungswert der Briefe. Die Informationen steigern ihn. Die Edition des exzellenten Herausgebers und Übersetzers Peter Urban ist Cechov-gemäß. Die Ausgabe duldet keine Langeweile. Leser zu langweilen war für den Dramatiker, Erzähler, Essayisten unentschuldbar. Der erste Band bündelt nahezu die Hälfte der Brief-Schreiber-Zeit.

Die Anfänge der literarischen Laufbahn werden schüchtern, doch nicht ohne Stolz geschildert. Den Aufstieg in die Weltliteratur begleitet der Bühnenautor und Epiker nicht selten mit skeptischen und zweifelnden Worten. Gleich Dostojewskij stöhnte auch Cechov ständig über die Gewalt des Geldes. Existenzielle Probleme verschärfen in den späteren Briefen den Ton. Bisweilen haben die Korrespondenzen eine Kälte, die dem jungen Mann fremd war. Anton Cechov bleibt des Adressaten selbst in der kritischen Zuneigung gut Freund. Es ist kein vergebliches Unterfangen, dem russischen Schriftsteller ein guter Freund zu werden, der am 15. Juli 1904, 2 Uhr nachts, seinen letzten Atemzug im deutschen Kurort Badenweiler tat. Man muß nur damit beginnen, die Korrespondenzen Anton Pavlovics zu lesen. Nicht wundern, wenn die Begegnung mit den Briefen zu einer Lebens-Liebes-Beziehung mit Cechov wird!


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11+12/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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