Eine Rezension von Rulo Melchert


Ein Leben als Priester, als Dichter und als Revolutionär

Ernesto Cardenal: Verlorenes Leben
Erinnerungen Band 1.
Aus dem Spanischen von Lutz Kliche.
Peter Hammer Verlag, Wuppertal 1999, 416 S.

Ernesto Cardenal: Mit Liebe füllen diesen blauen Planeten
Gedichte.
Aus dem Spanischen von Elisabeth Wirth de Argüello/Stefan Baciu/Anneliese Schwarzer/Sabine Richter/Heinz G. Schmidt/Lutz Kliche.
Peter Hammer Verlag, Wuppertal 1998, 168 S.

 

Mit 72 Jahren schreibt Ernesto Cardenal seine Erinnerungen nieder, ein spontan erzähltes, aber bewußt komponiertes Memoirenwerk, das nicht nur das eigene verlorene Leben nacherzählt, sondern auch die Zeit reflektiert, in der sich diese eine, ganz besondere Individualität entfalten kann, in all ihren Widersprüchen. Der Titel Verlorenes Leben spielt an auf Lukas 9, 24: „Denn wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es erhalten.“ Ernesto Cardenal ist immer nur und gleichzeitig zu denken in dieser Dreiheit: als Priester, als Dichter und als Revolutionär. Es wird sich als Summe seiner Erinnerungen also nicht nur etwas Verlorenes zeigen, sondern vor allem etwas Gewonnenes. Es ist das immer wieder ein neues Leben, das von Cardenal gewagt wird, und er besitzt dann auch den Mut, Entscheidungen, die er einmal getroffen hat, als Irrtümer zu begreifen. Als „glückliche Irrtümer“, wie der heilige Augustin die Stunde der Urväter nannte. Gott oder Sex - das ist der große Widerspruch, in dem sich Ernesto Cardenal befindet, bevor er die Entscheidung trifft, mit 32 Jahren Nicaragua zu verlassen und ins Trappistenkloster von Gethsemani in Kentucky/USA einzutreten. Er ist schon ein Dichter, in Zeitungen und Zeitschriften sind seine Gedichte veröffentlicht, auch wenn er zur gleichen Zeit meint, Bildhauer werden zu können. Jetzt kommt er in einen antiliterarischen Orden. Um als Novize ins Kloster aufgenommen zu werden, muß er mit dem Schreiben aufhören. Sein neues Leben beginnt mit dem Verzicht auf alles. Allerdings, das Verbot bezieht sich nur auf professionelles Schreiben, d.h. Schreiben, um zu veröffentlichen. Die Hefte und Notizbücher, die er mitgebracht hat, darf er behalten und Gedanken, Notizen und Eindrücke aufschreiben. Sie sind als „Notizen aus dem Noviziat“ ein Kapitel dieser Erinnerungen. Daraus entfernt sind ein paar Textteile, die nach dem Verlassen des Klosters zu Gedichten umgeschrieben wurden, und mystische Themen, die gesondert veröffentlicht sind.

Der Eintritt ins Trappistenkloster Gethsemani ist ein Verzicht auf vieles, was Ernesto Cardenal bisher trieb. Vor allem ist es ein Verzicht auf die menschliche Liebe. Es mag ein bißchen irritieren, daß Cardenal seine Erinnerungen beginnt mit den vielen Mädchen, die er geliebt hat, von Adelita bis Ileana. Er ist auf der Suche nach der idealen Frau. Er ist bereit zu heiraten. Aber es sind im Grunde genommen nur Verliebtheiten, mit denen er sich hier herumschlägt. Immer wieder heißt es: „Gott oder sie.“ Diese Erinnerungen haben auch einen Ton von Heiterkeit. „Gott war hinter mir her, und ich war hinter den Mädchen her.“ Aber manche Mädchen, das weiß Ernesto Cardenal genau, sind nur Themen für die Epigramme, die er schreibt, nichts weiter, „oder Illusionen, die ich einmal hatte“. Ausführlich macht er denn auch in diesem Teil seiner Erinnerungen auf die autobiographischen Bezüge und Hintergründe vieler Epigramme aufmerksam. Der Verzicht auf die menschliche Liebe, darüber ist sich der 72jährige Memoirenschreiber klar, war etwas Irrtümliches. Er weist aber auf den Widerspruch hin, der in diesem Irrtum steckt: „Doch hätte ich ohne diesen Irrtum nicht meine Vereinigung mit Gott erreicht.“ Es ist das eine grundsätzliche Erkenntnis, die Ernesto Cardenal hier über sein Leben mitteilt. „Mehr noch“, sagt er an dieser Stelle: „Ohne diesen Irrtum, das Zölibat zu wählen, wäre ich auch niemals Revolutionär geworden. Ich wäre ein Bourgeois geblieben ... In der Sandinistischen Revolution wäre ich bestenfalls ein intellektueller Sympathisant gewesen, doch auf keinen Fall ein militanter Revolutionär ...“ Ileana, das letzte Mädchen, in das Cardenal verliebt ist, heiratet einen anderen, und Somoza, der Diktator Nicaraguas, ist Trauzeuge. Am 2. Juni 1956 ist Hochzeit. Es ist dies gleichzeitig der Tag, an dem sich Ernesto Cardenal für Gott entscheidet. Er erzählt, wie er das Sirenengeheul des Autos Somozas in den Straßen hört. Das ist für ihn wie ein Signal. Seine Empfindung beschreibt er mit dem Wort Lust. Sein Zustand: „Als wäre ich in meinem Innern blind und taub.“ Von allen Gelüsten und Wünschen fühlt er sich frei. So kommt er nach Gethsemani, sein Ordensname ist Lawrence, sein Mentor heißt Thomas Merton. Es wird ein Leben in Schweigen sein, das er jetzt zu führen hat. Die Tage sind eine Mischung aus Lektüre, Studium und Gebet. Er fühlt sich in einem künstlichen Zustand, „wie unter Drogen“. Doch Merton, sein Lehrer, lehrt ihn auch, daß er in Gesprächen mit ihm auf nichts verzichten muß, nicht auf das Interesse an seinem Land, der Politik Nicaraguas und Lateinamerikas, den Diktatoren, dem Imperialismus, seinen Freunden, seinen Büchern. Dieses Kapitel der Erinnerungen über das Klosterleben ist auch zu lesen als ein großes Porträt Mertons, eines weit über die Klostergrenzen und die USA hinaus bekannten Schriftstellers - ein „fröhlicher Heiliger“. Der korrespondiert mit Pasternak und läßt die Novizen für Fidel Castros Revolution auf Cuba Gebete sprechen. Der Einfluß Mertons auf Ernesto Cardenal ist allseitig. So weist er Cardenal auf die Indios hin, auf ihre Poesie, ihre Kosmovision, ihre Weisheit und Mystik. Cardenal wird im Laufe der Jahre zu einem immer besseren Kenner dieser indianischen Themen, „und ein großer Teil meiner eigenen Dichtung ist davon beeinflußt worden“. 1959 tritt Cardenal, bestärkt durch Merton, aus dem Trappistenkloster aus. Bis 1961 hält er sich im Benediktinerkloster in Cuernavaca in Mexiko auf. Er ist 34 Jahre alt. Hier, in Mexiko, erscheinen die Epigramme und Die Stunde Null, dies waren seine ersten Buchveröffentlichungen, „so daß man mich einen Autor mit späten Erstveröffentlichungen nennen kann“. Mit Mejía Sánchez gibt Ernesto Cardenal die Sammlung Revolutionäre Gedichte aus Nicaragua heraus, sozialkritische und politische Gedichte, die meisten gegen Somoza und die Yankees. Von Cuernavaca aus geht Cardenal auf ein Priesterseminar nach Kolumbien, seine Lehrzeit ist noch nicht abgelaufen. Erst 1966 kommt er nach Solentiname.

Die letzten 100 Seiten der Erinnerungen gehen zurück in die ersten Jahre Ernesto Cardenals, in die Zeit seiner Kindheit in Granada und León. In León wohnt die Familie bei der Tante Trinidad; ihre Geschichten, von der weitverzweigten Familie, von Wundern und von der Vergangenheit, immer wieder am Abendbrottisch erzählt, finden in dem Kind einen aufmerksamen Zuhörer. Es geht da manchmal zu wie in einem Roman von García Márquez. Die weitläufigen und weit zurückreichenden Verwandtschaftsbeziehungen werden entflochten. Mit der Familie Téfel hat Cardenal, wie er schreibt, 12 Prozent jüdisches Blut in den Adern - „was zu Zeiten Hitlers ausgereicht hätte, um ins Konzentrationslager gesperrt zu werden“. Auch seine Verwandtschaft zu Somoza legt er dar. Ernesto Cardenal ist der Ururgroßneffe von Don Bernabé Somoza, einem Krieger, Guerillero und Banditen des 19. Jahrhunderts, dessen Leben und Taten aufregend dargestellt werden. „Ich finde es beschämend“, bemerkt Cardenal, „mit dem Somoza-Tyrannen verwandt zu sein, doch nicht, es auch mit Don Bernabé Somoza zu sein.“ In diese Zeit in León fällt auch die erste Liebe: Mereya ist sieben, Ernesto acht Jahre alt. Benachbart liegt das Haus der Tante Trinidad dem Haus, in dem Rubén Darío wohnte, der große Dichter Nicaraguas. Frühzeitig hört Cardenal dessen Gedichte, ohne sie aber zu verstehen, er selber kann noch nicht lesen und schreiben. Es ist die geheimnisvolle, symbolische Begegnung zweier Dichter. Natürlich, Rubén Darío ist tot. Der Geist seiner Dichtung aber schwebt um den künftigen Dichter Ernesto Cardenal. Der Einfluß beginnt schon hier, wenn auch unbewußt. Vor allem bei Darío hat er begriffen, „daß man einen schönen Klang hervorbringen konnte, indem man Worte zusammenbrachte, die mit dem gleichen Laut endeten. Der Reichtum der Reime von Darío.“ Im Garten der Tante Trinidad unter einem Lorbeerbaum liegend, deklamiert das Kind eine lange Liste Wörter, die alle die gleiche Endung haben: rosa, hermosa, mariposa, primorosa, cosa, curiosa, esposa. Dieser erste Band der Erinnerungen Ernesto Cardenals, wenn wir der Komposition folgen, macht uns auf den werdenden Priester, Dichter und Revolutionär aufmerksam, wobei der Erzähler nichts ausspart, nicht die Höhen, nicht die Tiefen seines Werdegangs, nicht seine Irrtümer, seine Widersprüche, nicht seine Lust, nicht seine Zweifel. „Jetzt, da ich meine Erinnerungen niederschreibe, mußte ich dies alles erzählen, sonst machte es ja keinen Sinn, Erinnerungen aufzuschreiben“, wie Ernesto Cardenal an entscheidender Stelle sagt. Vieles bleibt aus diesem Leben noch zu erzählen, was in einem zweiten Band seinen Platz finden soll.

Die Dichtung Ernesto Cardenals zeichnet sich durch höchste Empfindung und Ausdrucksfähigkeit aus, versehen mit allen Zeichen der Modernität. Eine gute Hin- und Einführung gibt der Band Mit Liebe füllen den blauen Planeten, eine Sammlung von Gedichten aus allen Schaffensjahren bis in die Gegenwart. Die wichtigsten Motive sind erkennbar. „Epigramm“, „Die Stunde Null“ und „Psalmen“ sind hervorgehoben, um sie als Zyklen zu kennzeichnen. Es ist eine eminent politische Dichtung, die Cardenal geschrieben hat. Das politische Gedicht bekommt bei ihm eine Dimension, die weit ins Internationale reicht, das ist seine Leistung. Besonders in den langen Gedichten, von Ezra Pound und anderen angeregt, kommt Cardenals historisches Interesse zum Zuge. Es ist eine Neigung, die sich bei ihm frühzeitig zeigt, wie in den Erinnerungen dargelegt. Aber Geschichte steht nicht für sich, sie hat immer den direkten Bezug zur Gegenwart. Erst diese Mischung aus Geschichte und Gegenwart rauht die Gedichte Cardenals aufregend auf. Es ist kein Wunder, daß er dann die Form der Chronik wählt. Außer in den Epigrammen und in den Psalmen sind so zwei Elemente in der Dichtung auffällig: das Erzählende und das Anekdotische. Die Dichtung Ernesto Cardenals bezeichnet die Welt und die Dinge darin nicht nur allgemein, sondern immer ganz konkret, historisch und sozial, mit Eigennamen und präzisen Details, aus der nationalen und internationalen Geschichte und Gegenwart genommen. Daten, Zahlen und Zitate werden nicht gescheut, sondern ganz bewußt als Gestaltungselemente eingebaut. Es ist im wahrsten Sinne unreine Poesie, die wir bei Cardenal finden. Eine tiefe Sehnsucht durchzieht sie. „Wie tropisch ich bin! Das ist das Heimweh nach dem Paradies“, notiert er in den Erinnerungen. Liebe ist nicht von ungefähr eines der Hauptwörter dieser Dichtung, die zum Besten lateinamerikanischer Literatur unseres Jahrhunderts gehört.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11+12/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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