Eine Rezension von Alfred Büngen


Ausprägung eines Charakters

Heinrich Droege: Leben, nur Leben
Nachkrieg in einer Stadt.

Aarachne Verlag, Frankfurt/M. 1996

 

„Bedeutend war für mich dieser Mann, weil er mir die Welt erklärte, und zwar immer so, daß ich es verstehen konnte.“ Die Rede ist hier vom Großvater des Ich-Erzählers Heinrich Droege, der seine Kindheit und Jugend in den Jahren der Nazizeit, des Krieges und im Chaos der Nachkriegsjahre verbringt. Ausgehend von der Erkenntnis, daß die Sympathie, die man Toten zukommen läßt, elementare Aussagekraft über den eigenen Charakter besitzt, haben wir mit diesem zentralen Satz des Buches zum einen den Schlüssel für die Schreibabsicht des Autors, zum anderen auch zur Interpretation seines Grundcharakters gefunden.

Die Darstellung von Kindheit und Jugend in den Jahren von 1933 bis 1948 erscheint heute - vor einigen Jahren sah dies noch gänzlich anders aus - als keine Besonderheit mehr. Doch viele dieser biographischen Darstellungen leiden an einer individuellen biographischen Verklärung geschichtlicher und sozialer Realität, andere geraten bewußt oder unbewußt zu einem Mittel oder werden Opfer politisierend-historischer Aufgabenstellungen. Anders bei Leben, nur Leben; hier wird die Biographie zur mitgestalteten Geschichte des Alltags, wird sie einer nächsten und übernächsten Generation vermittelbare, glaubhafte Historie sein. Noch immer sollten Historiker und Pädagogen bei den Geschichtenerzählern in die Lehre gehen.

Heinrich Droege als erzählende Figur wirkt wegen seines individuell rebellischen Grundcharakters, der sich nicht vereinnahmen läßt, glaubhaft. Natürlich einer der wenigen Ausnahmefälle in Deutschland, denn das positive Betonen des Rebellentums, so wissen wir spätestens seit dem „Untertan“, ist kein deutsches Erziehungsgut. Droege entwickelt diesen, fast möchte man sagen, individuell anarchistischen Charakter in der Erziehung eben durch jenen Großvater, „einen stolzen, klassenbewußten Arbeiter“. Großvater und auch der Vater, der Kommunist war, bleiben allerdings in einer offensichtlichen Distanz zu parteipolitischen Tagesaktivitäten. Politik wird zu einer reinen Gesinnungsfrage, daher für die meisten Leser annehmbar, ist doch politische Organisation für den Großteil der Bevölkerung spätestens seit der totalen Mobilisierung und Organisierung durch die Nationalsozialisten ein ungeliebtes Moment geworden.

Die für Droege so wesentliche Erziehung durch den Großvater, d. h. die vaterlose Erziehung, erscheint gleichfalls als ein typisierendes Moment damaliger Gesellschaft. „Großvater hat mir die Welt erklärt, nicht mein Vater. Der mußte gleich nach Ausbruch des Kriegs zu den Soldaten.“

Grundlegendster Zug der Ausprägung eines Charakters durch den Großvater, also Basis des Rebellentums, ist die Erziehung zur Respektlosigkeit vor der Obrigkeit. „Laß dir erst beweisen, was einer kann, und prüfe erst, wes Geistes Kind er ist ...“

Mit einem solchen Rüstzeug ausgestattet, gestaltet der junge Droege die Jahre von Faschismus und Nachkriegszeit. Erlebt wäre das falsche Wort, immer ist er beteiligt, greift aktiv ein. Dadurch gerät der Alltag, abseits von Politik, in das Zentrum der Darstellung, der Alltag der Geschichte wird zum Mittelpunkt, politisches Geschehen wird zum Hintergrund. „Von den Ereignissen der Welt wollte ich was sagen, und immer wieder bin ich gleich bei meinen Befindlichkeiten, bei meinem bißchen Leben, aber Wichtigeres gab es nicht. Gut, meine Eltern und Geschwister noch, aber dann schon hörte es auf, dann kam lange nichts mehr, dann kamen die Kumpels und Klassenkameraden, aber die Welt interessierte eigentlich überhaupt nicht. Über die Gründung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands in der sowjetischen Besatzungszone war zu Haus geredet worden ... Über den Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß fiel da und dort mal ein Wort, sogar in der Schule ... Ja, die Engländer und Franzosen demontierten, was an Fabrikanlagen noch heil und brauchbar war, die Russen natürlich auch, die nahmen sogar die Eisenbahnschienen mit. Viele redeten darüber, schimpften, waren empört, hatten aber doch nichts anderes erwartet: Jetzt plündern die Sieger uns aus, was sonst, wir hätten es als Sieger auch getan.“

Und die Darstellung des alltäglichen Geschehens, die Grundzüge des Erwachsenwerdens in dieser deutschen Gesellschaft in einer Sprache mit großartigem Unterhaltungswert, mit Witz, Wut und Trauer, darin liegt der eigentliche Wert des Buches. Denn Droege macht Grundzüge der deutschen Wirklichkeit deutlich, da er sich ja mit seinem rebellenhaften Verhalten immer ein Stück weit gegen diese Grundzüge stellt. Und das Erkennen dieser Grundzüge der Wirklichkeit ermöglicht uns erst das politische Verstehen, nein wohl besser das Erklären eines so geratenen Deutschlands. Einige, außer denen, die bereits genannt sind, seien hier noch einmal genauer betrachtet.

Ein Grundzug der Kriegs- und Nachkriegszeit ist der alltägliche Kampf ums materielle Überleben, das, in den direkten Nachkriegsjahren, völlige Außerkraftsetzen von Eigentums-begrifflichkeiten. Nur wer klaute, konnte überleben. Droege beschränkt sich in der Darstellung dieses Moments nicht auf die Schilderung des Hungers und Elends, des Verfalls jeglicher Ordnung. In den Mittelpunkt stellt er das handelnde Subjekt, das mit Geschick und Witz um sein Überleben kämpft, dem dieser Zustand des Fehlens bürgerlicher Ordnung auch noch Spaß bereitet - „... und im übrigen war es langweilig, wohlanständig zu sein.“ Der junge Rebell gewinnt seine Identität im anarchischen Überlebenskampf. Wer einmal genauer biographische Darstellungen aus jener Zeit liest, die Lustspiele über jene Jahre ein wenig analy siert, die noch heute mit glitzernden Augen vorgetragenen Geschichten älterer Menschen vom Schwarzschlachten, vom Kohlenklau und Tauschhandel hört, der entwickelt eine Ahnung von der emotionalen Begeisterung, die anscheinend viele in jenen Jahren der Abwesenheit bürgerlicher Ordnung empfanden. Der Mensch war tatsächlich auf sich selber angewiesen, das „... Hirn wurde ständig beansprucht, täglich neue Finessen und Tricks mußte es sich einfallen lassen, immer hellwach sein ...“, um zu überleben. Kaum jemand hat dieses Moment so gelungen eingefangen wie Droege in diesem Buch.

Das gilt auch für andere emotionale Momente, wie die der erwachenen Sexualität der Jugendlichen in diesen Jahren. In vielen Biographien und Darstellungen scheinheilig verschwiegen, schildert der Autor hier sehr offen die erstaunlichsten Abenteuer auf diesem Gebiet. Wettonanieren mit der ganzen Klasse, vielfältige sexuelle Erfahrungen auch mit älteren Frauen zeigen die Abwesenheit der prüden bürgerlichen Ordnung auch in diesem wesentlichen Bereich emotionaler Entwicklung.

Im engen Zusammenhang wird damit auch die Möglichkeit und Fähigkeit zu träumen gestellt. „Zeit zum Träumen hatten wir, aber wir hatten die Bilder nicht und nicht die Phantasie über uns hinaus zu träumen.“ Der Traum von der realen Befriedigung naheliegender Bedürfnisse, Hunger, Durst, Sexualität, ja Leben, zeigt den archaischen Zustand der Gesellschaft der Nachkriegszeit an, in der kein Platz für weitere Utopien zu sein scheint.

Droege verklärt aber diese Zustände nicht. Er verdeutlicht auch wichtige Momente, die dem Kind und Heranwachsenden fehlen. Besonders die fehlende Zärtlichkeit, die liebevolle, nicht sexuelle Zuneigung eines anderen Menschen. Die Unzulässigkeit des Zeigens von Emotionen für einen Jungen, „... Streicheln oder gar Küssen, das war eine Sache der Weiber“, „Weinen galt als unmännlich“, bleiben ihm unerklärlich. Statt liebevoller Zuneigung gibt es jedoch genügend Prügel. „Ich bekam überhaupt oft Prügel, wenn nicht von meiner Mutter, dann von meinen Mitschülern oder vom Lehrer.“ Anscheinend fragt sich Droege bis heute, wie er die Prügel vor allem seelisch verarbeiten konnte. Die Antwort darauf könnte heißen, daß die Prügel ihn bestärkt haben in seinem rebellischen Verhalten, keine Unterordnung, keine Anpassung, vielmehr rebellischer Widerstand gegen die ent-menschlichende Diktatur des So-leben-Müssen.

Leben, nur Leben, für jeden, der die Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik verstehen will, ein wohl verbindliches Stück Literatur. Gerade auch Lehrer sollten ihren Schülern dieses Buch bei der Erarbeitung der Geschichte ihrer Eltern und Großeltern dringend empfehlen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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