Eine Rezension von Friedrich Schimmel


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Alles und mehr über einen Unterirdischen

 

Udo Dickenberger: Philosophie des Maulwurfs
Unzeitgemäße Wühlarbeiten.

Reclam Verlag Leipzig, Leipzig 1998, 154 S.

 

Es ist nicht zu übersehen: Der Leipziger Reclam Verlag druckt nun seit wenigen Jahren fast jedes modische Experiment, vorausgesetzt, es ist schrill, aufschäumend oder gibt sich den Schein (An-Schein) plötzlicher, ganz unerwarteter Originalität. Sex and crime oder ausnahmsweise vielleicht nur: eine Philosophie des Maulwurfs. Wenn Udo Dickenberger an Maulwürfe denkt, denkt er auch an Adorno, an Bloch, an Nietzsche, Lichtenberg, Goethe sowieso. Eigentlich haben sie alle mit diesem prächtig aufgemöbelten Thema, das eins von mittelprächtiger Unterhaltung ist, zu tun. Er erteilt recht unterhaltsam, manchmal sehr amüsant, aber schnell wieder verwehend, Lektionen. Es könnten auch satirisch-kabarettistische Vorstellungen sein, wäre da nicht die allzuoft bemühte Geste des Zitierens, des gar zu argen und raschen Hinwegzitierens. „Meine Damen und Herren“, so beginnt fast jede Lektion, das heißt jede zweite, denn die andere Hälfte beginnt so: „Meine verehrten ...“, einzelne auch „Sehr verehrte“, es kann sogar mal nur ein kurzer Anruf „Zuhörer“ oder „Liebe Zuhörer“ sein.

Wer die Oberfläche der Welt nach Maulwurfshügeln absucht, wird auch bei seinen unterirdischen Wanderungen nur auf Maulwürfe treffen. Der 1958 geborene Autor, also kein 68er Maulwurf, gesteht, daß er lange „früh schlafen gegangen“, dann „über Jahrzehnte hin mit den Dichtern und den Philosophen befaßt“ war. Bis er begann, Maulwürfe zu sammeln, sie in ein „System“ packte und darüber „Vorlesungen“ hielt. Wen wird das nicht alles erfreuen: Nun liegen sie gedruckt vor.

Bei aller Anstrengung, die der leichte Vortrag nötig macht, zeigt Dickenberger manchen Spaß, indem er das allzuoft Ernste schlicht beiseite schiebt. Es hört sozusagen auf, ernst zu sein, während der Maulwurf seine Arbeit verrichtet. Häufchen schaufeln, das ist eine muntere Tätigkeit, eine, bei der man aber auch einschlafen kann. Denn: „Wir sind Maulwürfe auf dem Rücken von Maulwürfen, und wir sollen nicht jedesmal den Schnabel aufreißen, wenn einmal in einer früheren Epoche jemand etwas Dummes gesagt hat.“ Warum gerade der Maulwurf für diesen Autor ein „für unsere konfuse Zeit“ (wo hat er das denn aufgeschnappt?) ein „besseres Leitbild“ zu sein scheint „als meinetwegen das Rennpferd“, das wird hier in über vierzig Kapiteln (Vorlesungen) mühsam - leicht durchgespielt. Mit Fragen wie „Was sagt Goethe über unseren Gegenstand?“ hat Dickenberger auch sogleich ganz die neuesten Höhepunkte der Wissenschaft wieder erreicht. Goethe, heißt es, habe zum Beispiel zu seinem „Ornithologen Johann Peter Eckermann am 8. Oktober 1827 sehr schön über den Kuckuck gesprochen“. Und das weiß jeder, der ruft wunderbar; und jeder, der ihn im Mai zuerst hört, klopfe auf seine halbleere Geldbörse und erwarte bald eine halbvolle dazu. Aber der Kuckuck legt sein Ei nicht nur gern, sondern immer in fremde Nester. Und so entsteht schon ein Bild, das zu benutzen ist. Dieser spontan und spielerisch arbeitende Dozent greift nach den Eiern (und Eierschalen) vieler Vor-Töner. Er zwiebelt die dünnen Schälchen, aus denen mal was kroch, durch die Finger, und er legt neue Nester an, um das alles, ziemlich breiig geworden, wieder in Nester von Nestern zu legen.

„Der Weltgeist“, es kann nicht anders sein, solange er nur diesen einen Namen hat, „wühlt“, während er früher „flatterte und sauste“. Mehr noch: „Der Weltgeist windet sich, und wir sehen zu. Wir müssen froh sein, wenn uns nichts geschieht und wir keine Hiebe abbekommen.“

Schön ist an diesem ganzen Buch, daß jeder Maulwurfshügel, also jede Vorlesung, anders aussieht. Was eben noch gegolten hat, trifft gleich danach nicht mehr zu. Denn jeder Autor, der von Dickenberger mit einem Text in die Vorlesung einbezogen wird, meint ja auch einen anderen Maulwurf. Bei Gottfried Keller anders als bei Wilhelm Busch, bei Alfred Brehm anders als bei Robert Walser. Und der Vortragende sucht jede Art der Verwandlung, er will lehren und wieder vergessen lehren, er taucht beim nächsten Mal wieder auf, taucht aber gleich wieder unter, einmal auch ins Pflanzenreich, denn „wenn man von der Farbe absieht“, kommt die Banane dem Maulwurf „am nächsten“.

Wenn das Thema seiner Vorlesung „Das allgemeine Unrecht und der Lauf der Welt“ überschrieben ist, werden die Zuhörer (Leser) auch als „Liebe Getreue“ angesprochen. Denn es gilt das Versprechen, bald am Ziel zu sein. Und alles scheint gut: „Wir alle werden überleben.“ Denn er weiß, daß alle mit ihm zufrieden waren, „darum will ich mir nicht länger den Kopf zerbrechen“.

Schließlich zählt nur das satirisch-sinnliche Erlebnis. Zum Schluß, das heißt bei Udo Dickenberger „Beschluß“, sind, meint und hofft er, alle eins. Denn Wissenschaft, Philosophie, Architektur und bildende Kunst, die er reichlich nach Maulwürfen abge- und untersucht hat, zählen nun kaum noch. Was zählt, ist ein Punkt, an dem alle heiter sind „und miteinander musizieren“. Freude aneinander haben, essen und trinken. Und schnell alle Maulwürfe wieder vergessen, vor allem die in diesem Band erkünstelten, also solche, die wohl gar keine Maulwürfe waren. Schön zu hören, daß zum Schluß auch der Autor „von den Maulwürfen nichts mehr sehen und hören“ will. Eine schöne Übereinstimmung zwischen ihm und dem Leser.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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