Eine Rezension von Bernd Heimberger


Unberührt und unbedarft

Sigrid Damm (Hrsg.): Christiane Goethe
Tagebuch 1816 und Briefe.
Insel Verlag, Frankfurt/M. 1999, 479 S. mit zahlr. Abb.

Ruth Rahmeyer: Bester Vater
Briefe der Ulrike von Pogwisch an Goethe.
Edition Leipzig, Leipzig 1999, 240 S.

 

Für Mystiker und andere Deuter irdischer Dinge müßte das was hermachen. Christiane war rund 16 Jahre jünger als Wolfgang. Sie starb rund 16 Jahre vor ihm. Das Leben der 1765 geborenen Christiane Vulpius endete 1816. War’s vorhersehbar, das Todesjahr der Frau Staatsminister, die für viele in Weimar ewig die vulgäre Vulpius blieb, die Wohlgesonnenere die Goethen nannten und die für Goethe Christiane war, die 28 Jahre zu ihm hielt. Die von Sigrid Damm eindringlich beschriebene Beziehung zwischen Christiane und Goethe machte den Abstand des Paares in der Annäherung öffentlich. Die gemeinsamen Jahre von Christiane und Wolfgang waren schöne, schwere und schlimme Jahre. Ist alles zu den Gemeinsamkeiten und Gegensätzen im Hause Goethe gesagt? Ihrer gründlichen und ergiebigen Recherche zum Trotz teilt Damm einen Nachschlag aus. Sie hat das Tagebuch, das Christiane im Sterbejahr führte, vom Staub des Unberührtseins befreit und aufbereitet. Die täglichen Notizen beginnen mit dem 1. Januar 1816 und enden mit dem 30. Mai des Jahres. Wenige Tage vor dem Tode. „Mittag für uns“ lautet die häufigste Eintragung der Monate, die Bemerkungen über Matt- und Schwachsein, über Zahnschmerzen, Aderlaß, Magenkrämpfe sowie Hauswirtschaftliches, Ausfahrten und Gäste begleiten. Schlichte Stenogramme, die Goethe-Kennern manches sagen, Unkundige jedoch nicht wesentlich klüger machen. Wäre es nicht gescheiter gewesen, das Tagebuch von 1816 dort zu lassen, wo es seit 1816 steht? „Nahe am Fenster“ in Goethes Arbeitszimmer. Offensichtlich war es nicht nur germanistische Überheblichkeit, die das Tagebuch unberührt und unbeachtet ließ. Sigrid Damm wußte, daß die geringe Substanz des Selbstzeugnisses keine selbständige Veröffentlichung rechtfertigte. Die erstmalige Edition begleiten Zeugnisse von Zeitgenossen. Abermals lesen wir: „Mittag für uns.“ Sozusagen synchron äußert sich so der Hausherr in seinem Tagebuch. Viel mehr an Gemeinschaftlichem ist kaum auszumachen. Gemäß ihrer Recherche Christiane und Goethe ergänzt Damm die Zeitzeugnisse mit Anmerkungen zu Personen und Ereignissen. Erst die Ergänzungen machen auch die Tagebuch-Texte Christianes zu lesbarer Lektüre. Vorwort und Nachsatz der Herausgeberin sowie ein ausführlicher Anhang mit „Bildern und Dokumenten“ geben der Publikation die Qualität. Die Ausgabe des Tagebuchs der Christiane Goethe hat ein Format, das die üblichen Taschenbücher übertrifft.

Christiane war tot, eh das erste ihrer drei Enkelkinder auf die Welt kam. Wo Christiane zu Hause gewesen war, lebte nun Ottilie, die Schwiegertochter Goethes, die ihre Schwester Ulrike von Pogwisch mit an den Frauenplan brachte. „Anmut und Natürlichkeit“ der 20jährigen waren dem Hausherrn so genehm, weil sie seine Kreise nicht störte. Ulrike genoß Privilegien, die darüber hinausgingen, den Patriarchen „Vater“ zu nennen. Goethe, nicht der geduldigste Vater, war überaus geduldig gegenüber seinen Nenn-Kindern wie den Enkeln. Endet Damms Buch mit dem Abgang Christianes, beginnt der von Ruth Rahmeyer herausgegebene Band Bester Vater! Briefe der Ulrike von Pogwisch an Goethe im Jahre 1817. Trotz der Anwesenheit im Goethe-Haus gab’s - einem Diktat Goethes folgend - Tagebuch-Briefe, sobald ein Haus-Mitglied auf Reisen war. Dem Umstand sind die Postillen der Pogwisch an Goethe und Goethes an Ulrike zu danken. Die spätere Priorin eines Frauenstifts im Schleswigschen „war nicht sehr gescheit, aber gut und selbstlos“. Entsprechend belanglos sind die wenigen und mageren Schriftsätze des braven Mädchens an den Meister. Entsprechend väterlich-großväterlich sind die Briefgesten Goethes an die Naive. Die im Titel trotzig in den Vordergrund gestellten Briefe sind das Buch nicht wert, das sie ermöglichten. Das Material, um es mal so zu nennen, ist noch dürftiger als das Tagebuch der letzten Tage Christianes. Wie Sigrid Damm, so gelang es auch Ruth Rahmeyer, aus Wenigem viel zu machen. Die Pogwisch-Briefe bieten der Herausgeberin den günstigen Vorwand, ihren umfänglichen Essay „Die ,andere‘ Ulrike - Beschreibung einer Beziehung (1817-1832)“ zu verbreiten. Die Rahmeyersche Recherche zu Ulrike verlängert die Linie der Recherche Christiane und Goethe. Gemeinsam ist den Arbeiten die gewissenhafte Vorbereitung und sorgfältige Ausführung. Damm ist die kräftigere Kritikerin und entschiedenere Erzählerin. Sich dem Goethe-Imperium via der Randfiguren zu nähern hat Rahmeyer bereits mit ihren Büchern über Ottilie von Pogwisch, später Goethe, Charlotte Buff, später Kestner, versucht. Rahmeyer addiert Authentisches, um zu zeigen, was Bindungen und Beziehungen im Goethe-Umkreis ausmachten. Bindungen und Beziehungen in ihrer Abhängigkeit oder Unabhängigkeit zu Goethe zu beurteilen ist das A und O des Essays. Die Autorin ist Goetheanerin, die den Weihrauchkessel schwenkt. Sigrid Damm steht Goethe aufrecht gegenüber und sieht ihm direkt ins Gesicht. Der Unterschied in der Art der Achtung macht den Beachteten und Geachteten, die Beachteten und Geachteten mehr oder weniger deutlich.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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