Eine Rezension von Karl Friedrich


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Vor der Mauer, mit der Mauer, nach der Mauer

 

Klaus Welzel: Utopieverlust
Die deutsche Einheit im Spiegel ostdeutscher Autoren.
Würzburger wissenschaftliche Schriften. Band 242.

Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 1998, 261 S.

 

Fünf Texte von ostdeutschen Autoren werden „im Rahmen dieser Dissertationsarbeit“ von Klaus Welzel vorgestellt. Er wollte wissen, wie Christa Wolf, Wolfgang Hilbig, Volker Braun, Stefan Heym und Heiner Müller die sogenannte „Wendezeit“ literarisch verarbeitet haben. So ganz punktuell hervortönende Fragen haben oft den Nachteil, daß sie an der unpassenden Stelle ansetzen. Denn das Ergebnis ist mager, es konnte auch nicht anders ausfallen.

Einerseits wollte der Autor „so neutral wie möglich“ sein, andererseits verfällt er doch in Schablonen, stellt Fragen, die entweder schon beantwortet oder unbeantwortbar sind, und setzt dann doch auch wieder geistige Duft-Marken, wenn er gleich zu Beginn die fünf Autoren „Statisten im großen SED-Literatur-Staatszirkus“ nennt. Gewiß, sie alle trugen ihre Gewichte mit sich herum, aber was sie aus diesen Gewichten machten, war Literatur. Nicht nur für Leser in der DDR. Denn im Westen wurden sie alle noch mehr als im Osten gelesen. Gerade dieses Phänomen, das nicht nur ein modisches Links-Problem war, wäre gründlicherer Untersuchung wert. Forscher, beeilt euch, solange es noch Fragen zu beantworten gibt.

Welzel nennt die vorgestellten Autoren, bis auf Wolfgang Hilbig, „Autoren der Ankunftsgeneration“. Ein alter Begriff, weich und rund, aber mit Vorgeschichte. Und zu dieser Vorgeschichte gehört das Konzept der Utopie, das fast alle Schriftsteller der DDR entwickelten. Dies ist ja die große Merkwürdigkeit, diejenigen, die vorgaben, eine Utopie zu verwirklichen, verscherbelten sie gründlich. Von Anfang an, mehr oder weniger. Doch die Autoren, von denen die wichtigsten das frühzeitig begriffen, gingen von Ansätzen - utopisch-phantastisch-historisch - aus, die das Unmögliche ideell versuchten, eine Gesellschaft vorzustellen, die frei sein sollte von allen Zwängen der Geschichte. Aber die realen Bedingungen waren nicht gut für derlei Utopien. Dies war vielleicht der Kardinal-Irrtum der DDR-Autoren, die jedoch schreibend leben wollten. Auch unterliegt Klaus Welzel einem Irrtum, wenn er annimmt, „seine“ fünf Autoren seien Statisten als Handelnde im sozialistischen „Großfeldversuch“ gewesen. Sie haben ihr Ich eingesetzt, so gut es ging, und wenn es zuletzt auch unbefriedigend ausging, wie Christa Wolfs Erzählung Was bleibt.

Klaus Welzel hat durchweg gründlich gearbeitet und mehr Interesse am Thema gezeigt als das Feuilleton zu Beginn der neunziger Jahre. Er hat die unbestreitbare Sonderstellung der DDR-Schriftsteller erkannt. Eine Sonderstellung, die sie band (ans Regime) und zugleich partiell davon löste. Die Texte selbst zeigen heute (später vermutlich noch mehr) deutlich diese Spur phosphoreszierender Irr-Läufer. Die nächste Frage, Kernfrage dieser Arbeit: Wie gehen die Autoren mit dem Verlust des Staates DDR um? Es konnte nicht anders sein, dies ist sehr zwiespältig und im Grunde auch nicht sehr erhellend. Denn man verdammt nicht seine Kinder, wenn sie letztendlich unter ziemlich günstigen Voraussetzungen aufgewachsen sind. Der Teufel will es allemal so, auch die leidige Zensur hatte, Welzel sagt es zutreffend, ihre Vorteile. Aus ihr entsprang ein Zwang zur Metaphorik, ein Spiel mit der Wirklichkeit, das vielleicht den besonderen, wahrscheinlich sogar einzigartigen Wert der gelungenen Literatur in der DDR bestimmte. Ganz und gar verständlich, daß die hier besprochenen Autoren diese neue Einheit nicht wollten und auch nicht begrüßten. Nur einer, Günter de Bruyn, der hier in den Kommentaren und Fußnoten so oft genannt wird, daß er, freilich als Antipode, hier der Sechste im Bunde ist, hat diese „Wende“ ausdrücklich begrüßt. Und er hat sich auch nicht über ein Wort wie „Staatsdichter“ mokiert. Denn „Staatsdichter“, meinte er in einem Gespräch, „waren wir alle, damit müssen wir heute umgehen. Das war ein Beitrag zur Stabilisierung des Systems.“

Die Rolle, die die Intellektuellen, und hier besonders die Schriftsteller, schließlich im „Staatsuntergangsschauspiel“ (de Bruyn) spielten, ist weder aus den Büchern allein und viel weniger noch aus den Akten zu erschließen. Auch haben die Denunzianten und Interpreten hier wenig bewegt, wenn man von den moralischen Beschädigungen einmal absieht. Was wirklich war, und was wahr ist, das können nur die Autoren selbst sagen. Was sie mit ihren Texten dazu gesagt haben, ist zu gering. Klaus Welzel tut gut daran, wenn er die eigentümlich produktive Zwitterlage der einstigen DDR-Autoren nicht aufzulösen versucht, denn sie ist von außen nicht auflösbar. Entweder bleibt vieles Geheimnis der Autoren, oder es reizt zukünftige Leser gerade dieses unauflösbare Phänomen. „Noch heute“, meint Welzel, „ist nicht endgültig entschieden, ob die Autoren nun Bestandteil des Systems, also funktionierendes Rädchen, oder Teil der Opposition im Land waren?“ Es ist nicht falsch, wenn man sich vorläufig damit begnügt, daß sie beides waren. Daraus ergibt sich der Wert und zugleich der Unwert ihrer Leistungen. Und daß sie, bis auf Günter de Bruyn, den Verlust der Utopie bedauern, spricht ja nicht gegen sie. Volker Braun hat seine Resignation überwunden, indem er ganz und gar im Bild der Utopie (und ihres Untergangs) verharrt. In einem Gespräch vertrat er die Ansicht, daß dies alles eine Vorauserfahrung der ganzen Menschheit gewesen sei, „möglicherweise“, so Braun, „verweist unser Scheitern, unser Untergehen, auf eine Bewegung, die der ganzen Gattung, der Menschheit, erst noch bevorsteht.“ Keiner kann’s beweisen, denn niemand wird dabeisein, am Jüngsten Tag, wenn Brauns Prophezeiung auf den Prüfstand kommen wird. Sympathischer, weil nicht so übermütig-traumverloren, klingt da der Rat Heiner Müllers: „Alles in Ordnung. Interpretieren Sie nur, alles ganz prima.“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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