Eine Rezension von Willi Ph. Knecht


Spannende Tour durch die Sumpfgebiete des Radsports

Willy Voet: Gedopt - Der Ex-Festina-Masseur packt aus
Oder: Wie die Tour auf Touren kommt.

SVB Sportverlag Berlin, Berlin 1999, 160 S.

 

Am 8. Juli 1998, einem Mittwoch, gegen 6 Uhr 45, stoppten nahe dem kleinen französisch-belgischen Grenzort Le Dronkaert auf einer nach Lille führenden Nebenstraße der Autobahn E 17 vier französische Zollfahnder ein Auto mit hochbrisanter Fracht. In zwei hinter dem Fahrersitz versteckten Kühltaschen befanden sich 234 Flakons Erythropoientin (EPO), 80 Ampullen Wachstumshormone, 160 Einheiten Testosteron und 60 Gelatinekapseln Asaflow, ein aspirinhaltiges Präparat, das verdicktes Blut verflüssigt. Bei diesem chemischen Arsenal handelte es sich um Doping-Mittel, bestimmt für die bei der Tour-de-France 1998 zum Mitfavoriten deklarierte Festina-Mannschaft um das französische Radsport-Idol Richard Virenque, ein Jahr vorher bester Bergfahrer und Zweiter hinter dem deutschen Tour-de-France-Sieger Jan Ulrich. Bis heute blieb ungeklärt, ob es sich bei dem Coup des französischen Zolls um einen glückhaften Zufall oder doch einen gezielten Eingriff auf Grund eines vertraulichen Hinweises handelte.

Jedenfalls provozierte der Volltreffer die größte Polizeiaktion, die jemals im Zusammenhang mit einem Sportereignis stattfand, und die intensivste Doping-Fahndung, die bisher irgendwo auf der Welt von Staats wegen durchgeführt wurde. Im Verlauf der zuweilen rüden Ermittlungsverfahren der französischen Justizbehörden wurden etwa 30 Personen vorübergehend festgenommen und/oder mit Untersuchungshaft belegt. Sechs der ursprünglich 21 gestarteten Mannschaften schieden im Zusammenhang mit der multinationalen Doping-Affäre vorzeitig aus. Schließlich beendeten nur 96 von 190 gestarteten Fahrern das weltweit populärste Radrennen, dessen Auflage 1998 den Schmähtitel „Tour de Farce“ erwarb.

Der Mann, dessen Verhaftung am 8. Juli die staatsanwaltschaftliche Hetzjagd auslöste, das sportliche Renommee der Tour de France und das Ansehen des gesamten internationalen Profi-Radsports in eine tiefe Krise stürzte und speziell die europäischen Medien zu einer hektischen Enthüllungskampagne stimulierte, heißt Willy Voet. 1945 im flämischen Teil Belgiens geboren, gehört er seit 38 Jahren mehr oder minder eng zum Radsport-Betrieb. Seit 1972 wirkte er als ausgebildeter Bewegungstherapeut im Profi-Milieu; seit 1993 im Festina-Team als „Pfleger“, eine Mischung aus Masseur, Betreuer, Zeugwart, medizinischer Assistent und eben auch Beschaffer und Verteiler von Doping-Präparaten aller Art. Akribisch führte er von 1995 an in seinem „Pharma-Kalender“ Buch über die von ihm anläßlich der verschiedenen Rennen verabreichten Doping-Substanzen, die jeweils verteilten Mengen und deren Empfänger. Staatsanwaltschaft sowie der nationale und internationale Radsport-Verband bedienten sich erfreut dieses hilfreichen Dokuments.

Als in der Auflistung genannte Akteure ihre Unschuld beteuerten und somit deren Authentizi tät in Zweifel setzten, verriet Willy Voet erstmals am 21. September 1998 der Öffentlichkeit in einem Interview der Zeitung „Het Laatste Nieuws“ Einzelheiten der Doping-Praktiken im Profi-Radsport. Ein gutes halbes Jahr später summierte Willy Voet sein allumfassendes Experten-Wissen in einem im französischen Verlag Calmann-Levy edierten Buch, dessen deutsche Übersetzung von Stefan Rodecurt inzwischen unter dem Titel Gedopt - Der Ex-Festina-Masseur packt aus. Oder: Wie die Tour auf Touren kommt im Sportverlag Berlin erschien.

In dieser Präzision und Ausführlichkeit hat noch nie ein Mittäter Doping-Offenbarung betrieben, wobei davon ausgegangen werden darf, daß nicht Willy Voet selbst, sondern ein (ungenannter) professioneller Ghostwriter die wirkungsvolle Ausformulierung der Bekenntnisse übernahm. Obwohl nach seinen frühzeitigen Geständnissen bei polizeilichen und richterlichen Vernehmungen vom ehemaligen Arbeitgeber, von vormaligen Sportkameraden und -kollegen und branchennahen Sympathisanten geächtet, habe er seine Beichte „weder aus Revanchegelüsten noch aus Verbitterung aufgezeichnet“, läßt Voet im Prolog beteuern: „Jemand aus der Radsportszene mußte dieses Solo wagen. Ein Solo ohne Skrupel, ohne Scham, ohne Konzession.“ Das klingt, zweifelhaft glaubwürdig, nach reuigem Sünder. Aber ob nun aus Rückbesinnung auf ideelle Werte des „geliebten Radsports“ oder eher wegen des Autorenhonorars für den „Ersten, der das ungeschriebene Gesetz des Schweigens brach“: Der Report bestätigt überzeugend dem Insider realitätsnahe Hinweise und bisher unbelegte Vermutungen über raffinierte Methoden des Dopings und des Vertuschens von Doping und erschreckt den Nichtfachmann durch Einblicke in die Perfektion, mit der Doping betrieben wird.

In ihrer inhaltlichen Diktion bilden die 152 Textseiten eine fesselnde Mischung aus Demaskierung von Scheinheiligkeit, hin und wieder durchschimmerndem Selbstmitleid und spannender Schilderung dramatischer Ereignisse - alles in allem die faktenreiche Reportage einer Tour durch die Sumpfgebiete des Profi-Radsports. Fragen nach den Grundsätzlichkeiten des Doping-Unwesens im Sport und den Motivationen der Täter werden nicht gestellt, was von der Notwendigkeit einer moralischen Wertung der uferlosen Kommerzialisierung des Spitzensports ganz allgemein entbindet. Sehr hilfreich ist am Ende des Buches die kurzgefaßte Chronik der Tour 1998, eine von Hagen Boßdorf zusammengestellte Datensammlung, die angesichts der Schnellebigkeit unserer Zeit festhält, welche Turbulenzen damals die Radsportwelt erschütterten.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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