Eine Rezension von Horst Klein


Perspektiven der sozialistischen Idee

Uli Schöler: Ein Gespenst verschwand in Europa
Über Marx und die sozialistische Idee nach dem Scheitern des sowjetischen Staatssozialismus.

J. H. W. Dietz Verlag, Bonn 1999, 367 S.

 

Wir erinnern uns: Zu Beginn des zu Ende gehenden Jahrhunderts bewegte nicht zufällig die Frage, ob der Marxismus eine Wissenschaft oder eine Parteiideologie, eine Weltanschauung sei, die Gemüter der so oder so mit dem theoretischen Erbe von Marx und Engels verbundenen Theoretiker der Arbeiterbewegung. Die Formel von der „wissenschaftlichen Weltanschauung“ mündete mit der ihr eigenen Logik in Gestalt des „Marxismus-Leninismus“ im dogmatisch geprägten Ideologiebegriff. Marxismus als Ideologie verkümmerte und scheiterte letztlich ganz in dem von Engels in einem Brief an Mehring ( MEW, Bd. 39, S.92f.) charakterisierten Sinn eines falschen Bewußtseins. Über alle „Ismen“ erhaben, überlebte dennoch das theoretische, zweifellos wissenschaftliche Erbe von Marx und Engels alle bisherigen Krisen des „Marxismus“.

Der an der Bremer Universität geistig beheimatete Politikwissenschaftler Uli Schöler, der an der Seite von Detlev Albers bereits in den 80er Jahren mit wertvollen Beiträgen zur Geschichte des sowjetischen Sozialismusmodells und der sozialistischen Theorieentwicklung Aufmerksamkeit gewann, widmet sich in seinem jüngsten Buch der für Sozialisten aller Couleur wichtigen Frage nach den Perspektiven der sozialistischen Idee im vor uns liegenden Jahrhundert.

Schöler folgt dem Gedanken, wonach Marx Lehre als kritische Denkmethode, die sich mit neuen Problemen wie der Globalisierung und der Unterwerfung von Sozialstaaten unter staatenlose Finanzmärkte auseinandersetzen muß, nötiger denn je sei. Daß sich Marx und Engels als glänzende Analytiker kapitalistischer Verhältnisse erwiesen haben, als sie die Ausdehnung eines kapitalistischen Weltmarktes rund um diesen Globus mit seinen widersprüchlichen (destruktiven wie bereichernden) Erscheinungsformen glänzend vorausgesagt haben, ist für ihn ebenso unstrittig wie das durchgängige Scheitern der aus der kapitalistischen Gesellschaft linear abgeleiteten sozialistischen Perspektive, zudem noch herbeigeführt durch ein seine eigenen Interessen in die Hand nehmendes Proletariat.

Gewiß: Mit dem Zusammenbruch des vormals so bezeichneten Weltsystems des Sozialismus begann auch für die an Marx orientierten Linken eine neue Zeitrechnung. Schöler beleuchtet zunächst die verständlich nachzuvollziehende Situation, das betrifft sowohl das zerbrochene „Jahrhundertexperiment Sowjetunion“, die gegensätzlichen Denkgebäude in der Arbeiterbewegung und nicht zuletzt Fakten des unterschiedlichen Marx(ismus)-Verständnisses. Dabei geht es weniger um eine rein theoriegeschichtliche Untersuchung, sondern vielmehr um sozialistische Politikgeschichte. Die Skizze reflektiert sowohl die theoretische Sprachlosigkeit der Linken im Westen im Jahrzehnt nach der historischen Wende 1989/90 wie auch die schnell wechselnden Paradigmen öffentlicher Debatten. Zu nennen ist der „Triumphzug“ des Paradigmas des „freien“ Marktes, „der sich jedweden Formen sozialer oder gar sozialistischer Gestaltungsansprüche gegenüber als überlegen erwiesen habe“. Aus heutiger Sicht würde man wohl, so Schöler, von einem zunächst ungebrochenen Siegeszug eines „neoliberalen“ Paradigmas sprechen müssen. Zu den Konsequenzen für Deutschland zählt er die „Standortdebatte“, in der es vorrangig um die ausreichende internationale Wettbewerbsfähigkeit für deutsche Firmen, um Privatisierung, Deregu-lierung, Senkung von Unternehmenssteuern und maßvolle Lohnpolitik gehe. Die Standortdebatte sei schnell in die Debatte der „Globalisierung“ hinübergewachsen. Dem erweiterten Blickfeld entspreche auch eine Erweiterung des Ideengehaltes mit entsprechenden Konsequenzen für die politische Bühne, so auch für die Sozialdemokratie. Die noch im Berliner Grundsatzprogramm der SPD von 1989 auffindbaren Träume von einem anderen Gesellschaftsmodell, von einer „neuen Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft“ seien inzwischen verflogen. Der „demokratische Sozialismus“ sei mit der noch zu findenden Sicht auf das 21. Jahrhundert neu zu definieren. Die Theoriediskussion, soweit man von einer solchen sprechen kann, habe die große Irritation erkennen lassen, die der Zerfall des realsozialistischen Systems auch in der westlichen Linken bis weit in die Sozialdemokratie hinein ausgelöst hatte. Gescheitert sei nicht nur der sowjetische Staatssozialismus. Wenngleich sich die sozialdemokratische Kritik dieses Modells historisch als richtig erwiesen habe, so sollte nicht übersehen werden, daß auch das „sozialdemokratische Modell“ an gewisse Grenzen stoße. Produktiv wäre, und hier folgt Schöler Auffassungen von Peter Glotz, wenn Gruppierungen der „europäischen Linken gemeinsam versuchen würden, neue Antworten auf den brutalen Globalisierungskapitalismus zu finden“. Im Hinblick auf die PDS vermerkt er kritisch, daß diese sich noch immer zu unzeitgemäß auf „linkssozialdemokratische und ökosozialistische Theorieversatzstücke der bundesrepublikanischen Theoriedebatten der achtziger Jahre“ beziehe, „deren Tauglichkeit im Angesicht der veränderten Problemkonstellationen zumindest in Zweifel zu ziehen sind“. Zwangsläufig führen diese nicht ausführlich erörterten Überlegungen, die auch eine selbstkritische Rückschau auf linkssozialdemokratische Erfahrungen einschließen, zu der eigentlichen Gretchenfrage: Was wird aus der über einhundertfünfzig Jahre gewachsenen sozialdemokratischen Identität? Ist der Aufbruch zu einer „Politik der Neuen Mitte“ bzw. der Kurs der von Gerhard Schröder repräsentierten neoliberalen „Erneuerer“ in der SPD bereits das Schlußwort des von Ralf Dahrendorf prophezeiten Endes des sozialdemokratischen Jahrhunderts? Obliegt nun dem Fähnlein der aufrechten demokratischen Sozialisten in der PDS die wahrlich historische Aufgabe, die Problemsicht der „Globalisierung“ zu gewinnen und diese bei scharfsinniger Beachtung der objektiv gegebenen Rahmenbedingungen mit machbaren sozialistischen Grundsätzen zu verknüpfen?

Sicher ist, und hier läßt auch Schöler keinen Zweifel aufkommen, daß die gegenwärtigen Bedingungen und die Herausforderungen des kommenden Jahrhunderts alten wie neuen Prinzipien der sozialistischen Idee Geltung verschaffen. Er nennt:

-das Prinzip des Vorrangs langfristiger gesamtgesellschaftlicher Interessen vor dem sich naturwüchsig und weltweit durchsetzenden Kapitalverwertungsinteresses ...;

-das Prinzip nachhaltiger Entwicklung, des rationalen, ressourcenschonenden und energiearmen Umgangs mit der Natur, des Vorrangs der Dauer vor der Unmittelbarkeit;

-das Prinzip möglichst gerecht und gleichmäßig verteilter gesellschaftlicher Arbeit sowie das Prinzip einer demokratischen Öffentlichkeit und Beteiligung;

-das Prinzip der Aufhebung des Geschlechts als gesellschaftlicher Zu- und Rangord-nungskategorie oder anders ausgedrückt: das Prinzip der Geschwisterlichkeit;

-das Prinzip der internationalen Solidarität, des Friedens und der universellen Geltung der Menschenrechte.

Problematisch erscheint nicht zuletzt aufgrund derzeitiger Bestrebungen, den Sozialstaat in die Geschichte zu verbannen, die in den Schlußbemerkungen angesiedelte These, wonach „die soziale Frage ihre Zentralität innerhalb des sozialistischen Projekts verloren“ habe. Hier wäre wohl doch mehr zu berücksichtigen, daß die Globalisierung der beinahe unbeschränkten Kapitalherrschaft und der Marktprobleme eher zu einer Verschärfung der sozialen Probleme bzw. Widersprüche führen werden. Die Wirtschaftsdemokratie wäre ein Schlüsselproblem, das in der hier zu besprechenden Arbeit zwar geschichtlich gesehen wird, das aber bereits allzulange aus der Debatte der Linken verdrängt oder bei jüngeren Linkssozialisten noch nicht angekommen zu sein scheint. Von grundlegender Bedeutung ist die von Schöler thematisierte Frage nach dem Wie und Was eines künftig möglichen Gesellschaftsmodells. Er folgt der Logik der wirklichen Geschichte, die Zukunft sozialistischer Ideen im kommenden Jahrhundert zu bejahen, aber zugleich auch den Sozialismus als Gesellschaftsprojekt (als Formation) in Frage zu stellen. Nach Schöler habe die alte Linke mit einem mehr oder weniger geschlossenen theoretischen Denkgebäude eines „wissenschaftlichen Sozialismus“ ihr Projekt verfochten und in der Arbeiterklasse das historische Subjekt gesehen, das nunmehr verschwunden ist. Eine neue Linke könne es nur geben, wenn „in ihr die Pluralität der Projekte wie der Subjekte akzeptiert ist und diese zu einem produktiven und befruchtenden, Homogenisierungsversuchen widerstehenden Nebeneinander finden. Der Gedanke vom verschwundenen Subjekt „Arbeiterklasse“ hat gewiß etwas für sich, aber so absolut dürfte er wohl Widerspruch hervorrufen. Gehen wir doch ins neue Jahrtausend mit der Gewißheit, daß die Gesellschaft auf unabsehbare Zeit noch ihre vom Grundwiderspruch (Marx) geprägte Zerrissenheit zu leben hat. Die Globali-sierung der sozialen Entwicklungsprobleme, Vorgänge, die Schöler treffend darstellt, schafft den Produktivkräften neue Chancen der vielfältigen Entfaltung, aber damit verknüpft ist die zwar sehr differenziert vorhandene Schar der Arbeitnehmer, und sie ist, wenngleich das unterbelichtet bleibt, trotz alledem das entscheidende Subjekt des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses. Eine zu reflektierende Wandlung der Klassenstruktur und Struk-tur der Klassen und die dieser immanenten Differenzierung bzw. Individualisierung ist kaum überzeugend als Verschwinden des Subjekts zu vermitteln. Dessenungeachtet lenkt Schöler die Aufmerksamkeit auf eine Vielzahl interessanter und wichtiger Zusammenhänge und daraus ableitbarer Fragen zu den künftig denkbar möglichen politischen Organisationsformen. Er spricht von der Erosion der großen Massenparteien wie der Gewerkschaften sowie vom Bedeutungsverlust der Massenbewegung im traditionellen Sinne. Künftig werde es unter den Rahmenbedingungen einer sich entwickelnden Informations- und Dienstleistungsgesellschaft eher kleine Gruppierungen geben, die in Form von Netzwerken verbunden seien. Die daraus ableitbaren Fragen für das Funktionieren der Demokratie bleiben allerdings im dunkeln.

Uli Schöler ist einer der ersten Autoren, die sich aus linker sozialdemokratischer Sicht mit diesem schwierigen Thema befassen und dabei zu Einsichten und Schlußfolgerungen gelangen, die eine produktive theoretische Diskussion der Linkssozialisten in PDS und SPD befruchten können. Schöler schließt seine Arbeit mit der wohl kaum strittigen Erkenntnis, daß mit dem Schrecken des Parteikommunismus „die ,Allmächtigkeit‘ der Lehre von Marx und Engels verschwunden ist wie auch deren Kanonisierung und Ikonisierung zu Säulenheiligen der sozialistischen Bewegung. Auf diese Weise könnten sie sich allerdings als lebendiger erweisen, als mancher Prophet vom ,Ende der Geschichte‘ glaubte und als es den triumphierenden Apologeten der ungezügelten, ,freien‘ Marktwirtschaft und der Alternativlosigkeit einer schrankenlosen ,Allmacht des Geldes‘ lieb sein dürfte. Den Leitstern bildet dabei aber weniger eine bereits klar umrissene, sich aus den alten, kapitalistisch verfaßten ökonomischen Verhältnissen abzeichnende neue sozialistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, sondern der ,kategorische Imperativ‘ des jungen Marx, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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