Eine Rezension von Volker Strebel


Vom MfS zum Memfis-Blues

Udo Scheer: Vision und Wirklichkeit

Ch. Links Verlag, Berlin 1999, 244 S.

 

Seit der Wende sind zehn Jahre vergangen. Genug Abstand, um sich an bestimmte Aspekte der DDR-Realität zu erinnern. An jene Deutsche Demokratische Republik, die manche als die zweite Diktatur bezeichnen und andere als „real existierenden Sozialismus“ verklären. Udo Scheer legt in zwölf Kapiteln und einem Exkurs Einblicke und Hintergründe der Opposition im Jena der siebziger und achtziger Jahre vor. Der Autor verfügt über Einblicke aus erster Hand, war und ist er mit den wichtigsten Repräsentanten dieser unbotmäßigen Szene aus jener Zeit auch persönlich bekannt und befreundet. Scheer beschreibt die Gründung eines Arbeitskreises für Literatur im Jahr 1973 als „eine Gründung gegen die Gleichgültigkeit“. Aus westlicher Sicht ist es in der Tat heute wie damals schwer nachvollziehbar, daß sich jugendlicher Aktionismus vor allem des Mediums der Literatur bedient, um einer verbreiteten Frustration Ausdruck zu verleihen. Daß sich dann der gewaltige Apparat des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) für eine Handvoll mühsam auf Schreibmaschinen abgetippter Gedichte interessiert, wird heutzutage, vor allem in der jungen Generation, niemand mehr begreifen können. Allein dieses wäre übrigens ein Signal, daß die Bilanz des Zusammenwachsens nicht so schlecht sein kann, wie manchmal gesagt wird.

Die Lektüre des vorliegenden Bandes verhindert ein zu schnelles Vergessen. Die eingesehenen Stasi-Unterlagen verarbeitet Udo Scheer geschickt mit authentischen Aussagen ehemaliger Teilnehmer der Opposition in Jena. Eindrucksvoll wird jenes Klima von subtiler Einschüchterung und entschlossener Verweigerung, die dennoch nie frei von Angst war, wiedergegeben. Denn es geht schnell, daß man auf sich allein gestellt ist, wenn es darauf ankommt!

Udo Scheer führt die Mechanismen einer totalen Macht vor, die ohne wirkliche Kontrolle den einzelnen zum Gegner des gesamten Staates macht: „Du bist doch für den Frieden?“ Eine Diktatur, welche die Hegemonie über die verwendete Sprache verwaltet, bringt früher oder später automatisch die Menschen dazu, über den eigentlichen Sinn der Worte nachzudenken. Deutsche Demokratische Republik? Und was soll der Vorwurf der Staatsfeindlichkeit, wenn der Kommunismus die Zerschlagung des Staates im Programm führt?

Wolf Biermann und Robert Havemann, der unter den Nazis in der Todeszelle gesessen hatte, waren damals die bekanntesten Kritiker des SED-Staates. Gewiß, beide definierten sich als kritische Kommunisten, und gerade dies forderte die Machtverwalter in besonderem Maße heraus. Das ideologische Monopol war in Frage gestellt. Die Ausbürgerung Wolf Biermanns nach dessen Auftritt im November 1976 in Köln verschärfte das gesamte politische und kulturelle Klima in der DDR. In Jena, wo man bisher immer wieder durch Aufmüpfigkeit die Aufmerksamkeit der Stasi strapziert hatte, schlug die Staatsmacht gnadenlos zu. Es kam zu Verhaftungen und Schikanen aller Art. Auch der kürzlich viel zu früh verstorbene Jürgen Fuchs war aus dem Auto Professor Havemanns heraus verhaftet worden. Und doch schien es so, daß alle Gewalt das Empfinden der Menschen nicht länger zu unterdrücken vermochte. Die letzten Kapitel belegen, welchen Einfluß der internationale Druck auf das Vorgehen der Staatssicherheit hatte. Die Ausgebürgerten und Weggetriebenen sorgten nicht nur in der Bundesrepublik für eine breite Öffentlichkeit und verhalfen ganz offensichtlich etlichen Verhafteten zu ihrer Freiheit. Allerdings gab es auch tragische Vorfälle wie den bis heute ungeklärten Tod des Matthias Domaschk im Stasigefängnis. Udo Scheer stellt in einem Exkurs zwölf bohrende Fragen zu bisher vorliegenden Aussagen und Erklärungen. Einer der Aktivisten von Jena, der spätere „Kontraste“-Redakteur Roland Jahn, bilanzierte am 9. Oktober 1989 die Riesendemonstration in Leipzig: „Ich mußte daran denken, wie wir in Jena damals 1983 30 Leute waren. Und jetzt, sechs Jahre später, waren es 70 000. Tja, jetzt kann ich lachen und einfach sagen, ,es hat sich gelohnt‘.“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite