Eine Rezension von Ursula Reinhold


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Beobachtungen und Selbstermunterungen

 

Elfriede Brüning: Jeder lebt für sich allein
Nachwende-Notizen.

Karl Dietz Verlag Berlin, Berlin 1999, 157 S.

 

Lange kann die durch die Wende verursachte Pause in Elfriede Brünings Schreiben nicht gedauert haben, von der wir zu Beginn der Nachwende-Notizen im Jahre 1990 lesen. Denn sie hat seitdem drei Bücher publiziert: Lästige Zeugen (1990), Tonbandprotokolle mit Opfern der Stalinzeit, Kinder im Kreidekreis (1992) und die Autobiographie Und außerdem war es mein Leben (1994) sind erschienen. Sie bezeugt damit auch seit der Wende die anhaltende Produktivität, die für sie seit langem charakteristisch ist. Das ist bei einer Autorin, die mit ihrem Schreiben den aktuellen politischen und sozialen Fragen auf der Spur war und ist, nicht überraschend. Solches Interesse an den Fragen der Zeit, eine wache Beobachtungsgabe für deren Gebrechen und für die menschlichen Katastrophen bezeugt auch das jetzt vorliegende Buch. Es versammelt unter dem abgewandelten Fallada-Titel Jeder lebt für sich allein 22 Textstücke unterschiedlichen Charakters, die zwischen 1990 und 1997, mehrheitlich in der Zeit seit 1994, entstanden sind. Der Titel signalisiert die Befunde ihrer Beobachtungen und Erlebnisse in der Nachwendezeit, deren Sicht freilich auch durch das eigene fortschreitende Alter geprägt ist. Zu den Texten gehören Reportagen, z. B. „Chronik eines Dorfes“. Hier recherchiert und skizziert sie im vertrauten Umfeld die Umbrüche der Wende im Leben von Bauern. Reportagecharakter haben auch die Texte über „Reisen - heute und damals“, in denen sie die neugewonnene Freizügigkeit ins Verhältnis zu DDR-Erfahrungen setzt. Berichte über italienische Abenteuer, über die töchterlichen Ambitionen mit einer Ölmühle und einem baufälligen Landhaus („Ein weltweites Projekt“, „Ligurien ade“) bringen neben Eindrücken aus fremden Landen auch Vorstellungen vom Zusammenprall verschiedener Lebenserwartungen und Generationen zur Sprache. In Notizen von Reisen nach Bonn und anderswohin unterbreitet die Autorin das Erlebnis der Fremdheit, aber auch Eindrücke von Gesprächen und Begegnungen mit Menschen, die sich füreinander interessieren. Auch Erfahrungen von Lesungen und Diskussionen sind Bestandteil solcher Reiseberichte. Dann gibt es Berichte über Menschen, deren Schicksale - knapp porträtiert - die Umrisse von politischen und menschlichen Katastrophen andeuten. Sie sind von bestürzender oder ergreifender Relevanz. So eröffnet das skizzierte Beerdigungszeremoniell in „Eine KGB-Agentin“ weiträumige Assoziationen, es könnte, wie auch die Vorgänge um die Porträtierte in „Russenliebchen“, Stoff eines großen Romans werden. Das gilt auch für den Bericht über „Ein honettes Paar“, in dem das Kriegsende als relevanter Hintergrund gegenwärtigen Lebens aufscheint. Daneben gibt es eine Gruppe von Texten, in denen poli-tische Betrachtungen dominieren, sie wurden anläßlich von Gedenktagen („Gedenktage“, 1995) und den veränderten Bedingungen, unter denen sie stattfinden, angestellt. Sie offenbaren das veränderte politische Klima und helfen ganz nebenbei, vorherrschende Legenden über den sogenannten verordneten Antifaschismus in der DDR zu zerstören. Durchgehend bringen die Notizen die eigene Lebenssituation zur Sprache. In einigen Erzählstücken („Friedhofsgedanken“, „Umzugspläne“) werden eigene Ängste, Erwartungen und Überlegungen direkt thematisiert. Die Autorin widmet sich eigener Befindlichkeit, dem Altsein und der damit verbundenen Gebrechlichkeit, dem Gefühl des Alleinseins, der Angst, ohne Hilfe dazustehen, wenn sie notwendig wird. Die Erzählungen ergreifen mit ihrer Ehrlichkeit und erhellen das soziale Umfeld des alternden Menschen. Am Zustand ihres Hauses macht Elfriede Brüning den sozialen Wandel deutlich, deutet auf die Isolation der Menschen und die Kälte in den Beziehungen. Sie erzählt über die Beziehungen zu Tochter, Enkelin und Urenkeln, berichtet in knappen Worten über den Freitod des Schwiegersohns. Auch für die Probleme der Jungen bleibt sie offen, bringt die eigenen Erwartungen ins Spiel, ohne die Situation der anderen zu ignorieren. Dazu verhelfen ihr ein lebhafter sozialer Sinn, die Fähigkeit des genauen Hinsehens und die Gabe, das Ergebnis in präzisen sprachlichen Ausdruck zu fassen. Alle Notizen zeichnen sich durch pointierte Kürze aus, da gibt es kein Wort zuviel. Die Notizen geben Erfahrungen mit dem Alter an nachrückende Generationen weiter, übereignen denen ein Erfahrungswissen, das ihnen hilft, dem anderen gegenüber offener zu sein und so dem innezuwerden, was auch sie einst erwartet. Solche Erfahrungen sind hier zutreffend ins Wort gesetzt, ohne Larmoyanz. Eine Funktion solchen Schreibens ist nicht zuletzt auch die der Selbstermunterung zum Weitermachen. Elfriede Brüning vollbringt sie nicht nur für sich.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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