Eine Rezension von Bertram Winde


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Totgesagte leben länger

 

Sallhofer/Radharose: Hier irrte Einstein.

Universitas Verlag in F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung, München 1997, 179 S.

 

Der Teilhaber eines österreichischen Unternehmens Dr. Hans H. Sallhofer, der einstmals Mathematik und Physik studierte, und der Managementberater Dennis Rose (Radharose), ein Philosoph, der einige Jahre als buddhistischer Mönch lebte, erörtern in fünf Gesprächen auch einige Aspekte der heutigen Physik, wobei Radharose als Opponent die Stichworte souffliert, damit Sallhofer - oft in höchst prätentiöser Ausdrucksweise - seine eigentümliche, sehr beschränkte Sicht der Physikentwicklung im zu Ende gehenden Jahrhundert darlegen kann.

Natürlich irrte Einstein. Zunächst einmal irrt aber Radharose, wenn er im Vorwort vollmundig auffordert: „Informieren und überzeugen Sie sich, sehen und erleben Sie den spektakulären, schmerzlichen und unvermeidlichen Niedergang der beiden großen physikalischen Theorien unseres Jahrhunderts - Quanten und Relativität.“ Genauso irreführend ist es, wenn es in einer Verlagsanzeige heißt: „Vergnügen Sie sich in einer rückhaltlosen Schilderung der Lage der Physik zur Jahrtausendwende.“ Keine dieser Versprechungen wird auch nur annähernd erfüllt. Das Buch enthält zwar einiges Neue und einiges Kluge. Jedoch, was klug ist, ist nicht neu, was neu ist, ist nicht klug. Es ist überflüssig und kaum einer Besprechung wert. Trotzdem will ich mir die Mühe machen.

Irren ist menschlich, und auch der genialste Gelehrte bildet sich nicht ein, unfehlbar zu sein. Der Wert von Irrtümern für die Entwicklung einer Wissenschaft ist aber sehr unterschiedlich. Banale Irrtümer, wie der unlogische Analogieschluß von Sallhofer, man könne aus der von ihm hergeleiteten formalen Identität von Elektrodynamik und Quantentheorie auf deren inhaltliche Gleichartigkeit schließen, führen unweigerlich in unfruchtbares Gestrüpp. Ganz anderer Art sind viele Irrtümer großer Geister - und von wem könnte man sagen, er habe nie geirrt? Einstein forderte von einer „guten“ Theorie innere Geschlossenheit und äußere Bewährung, war aber nicht der Auffassung, sie müsse endgültig, unumstößlich, absolut wahr sein. Gute Theorien in diesem Sinne sind zweifellos die Quanten- und Relativitätstheorie. Sie erlauben es, die Ergebnisse von Experimenten mit weitaus größerer Genauigkeit vorauszuberechnen als das ihre Vorläufer - die Newtonsche Mechanik und die Maxwelltheorie des elektronischen Feldes vermochten. Diese Vorläufer ergaben sich bekanntlich als ausreichend genaue Grenzfälle der beiden Theorien im Bereich des alltäglichen Lebens. Sie erwiesen sich keineswegs als schlechthin falsch; bei der Untersuchung physikalischer Erscheinungen in kosmischen oder atomaren Dimensionen erzielte man mit ihnen jedoch weit schlechtere Annäherungen an die experimentellen Werte als mit Relativitäts- bzw. Quantentheorie. Jede echte Problemlösung bringt bekanntlich neue Probleme mit sich. Das war auch bei den neuen Theorien der Fall, und einige konnten in den inzwischen verflossenen einhundert Jahren noch nicht befriedigend gelöst werden. Doch das Streben nach immer besserer Annäherung an die durch experimentelle Daten fixierbare reale, außerhalb unseres Bewußtseins existierende Natur ist dem Forscher weit wichtiger als das Erlangen eines endgültigen Resultats.

Kaum ein Lebensbereich ist im Verlaufe des 20. Jahrhunderts unverändert geblieben, und meistens hatte die Anwendung physikalischer Erkenntnisse ganz wesentlichen Anteil an diesen einschneidenden Wandlungen. Röntgenstrahlung, Rundfunk und Fernsehen, Lichttechnik, Kernenergie, Laser, Mirkroelektronik, Computer und Gentechnologie, die Reihe ließe sich fortsetzen. Unser Weltbild und damit verbunden unser Lebensgefühl sind sehr verschieden von denen unserer Urgroßeltern. Diese Entwicklung ist undenkbar ohne Berücksichtigung zweier Theoriengebäude, deren Grundlagen im wesentlichen innerhalb einer bemerkenswert kurzen Zeitspanne, im ersten Drittel des Jahrhunderts, entwickelt wurden: Quantentheorie (Planck, 1900; Einstein 1905) und Relativitätstheorie (Einstein, 1905; 1915). Sie führten zum „Umsturz im Weltbild der Physik“, (so der Titel eines populären Buches von Ernst Zimmer, das seit den dreißiger Jahren zahlreiche Auflagen erlebte). Wie bei jeder neuen Theorie war die Entwicklung mit einem lebhaften Meinungsstreit und natürlich auch mit mancher Idee verbunden, die schließlich in die Irre führte. Über die Rolle Einsteins dabei erklärte Niels Bohr, einer seiner Kontrahenten beim Streit um die Interpretation der Quantenphysik und Begründer der sogenannten Kopenhagener Schule: „In jedem neuen Schritt der Physik, der sich scheinbar eindeutig aus dem vorausgehenden ergab, entdeckte er Widersprüche. Und diese Widersprüche wurden zu vorantreibenden Impulsen für die Physik. Auf jeder neuen Etappe warf Einstein der Wissenschaft den Fehdehandschuh hin, und ohne diese Herausforderung hätte sich die Entwicklung der Quantenphysik sehr langsam vollzogen.“

Auf dieser durch zahlreiche Experimente gesicherten Grundlage, ergänzt z. B. durch Quantenelektrodynamik, Quantenfeldtheorie der Gravitation oder Theorien über das Verhalten physikalischer Objekte weitab vom thermodynamischen Gleichgewicht, wurden neue Zweige der Physik zur Erforschung von Festkörper, Plasma, Elementarteilchen und Kosmos u. a. überhaupt erst möglich. Und die Resultate wiederum wurden nicht nur in der Technik, der Biologie und der Medizin, sondern selbst in der Philosophie und Gehirnforschung/Psychologie mit Erfolg genutzt. Von all dem ist leider in der angeblich „rückhaltlosen Schilderung der Lage der Physik“ nicht einmal in Ansätzen die Rede.

Der Buchtitel erinnert wohl bewußt an die unzähligen untauglichen Versuche in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts, die Relativitätstheorie ad absurdum zu führen. Sallhofers Ambitionen gehen aber noch darüber hinaus. Nicht nur die Relativitätstheorie sei überholt, und Einstein habe geirrt, als er feststellte, sie habe sich aus der Maxwelltheorie herauskristallisiert, sondern auch die Quantenphysik wäre wegen der Wahrscheinlichkeits- Interpretation durch die Kopenhagener Schule (Bohr, Born, Heisenberg), die ja auch von Einstein abgelehnt worden sei - „Gott würfelt nicht“ - nach Sallhofers Meinung ans Ende ihrer Möglichkeiten gelangt. Sie habe in die Irre und zu unvertretbar hohen Aufwendungen für immer größere Teilchenbeschleuniger geführt. Daß diese „angeschlagene Naturlehre“ ihr Geburtsjahrhundert überlebt, sei kaum wünschenswert. Radharose widerspricht zwar mit einsichtigen Einwänden, die von Sallhofer mit unbewiesenen Behauptungen und Vermutungen abgewiesen werden. Letztendlich schließt er sich aber wohl auch den Grundauffassungen an, wie der aus seinem Vorwort zitierte Satz zeigt.

So also sei die Lage der Physik zur Jahrtausendwende: Die Quantenphysik habe zur Atomkernphysik, Elementarteilchenphysik und zur Hochenergiephysik mit Atombomben, Kernkraftwerken und den riesigen Beschleunigern, zum „Teilchenzoo“ geführt, sie verschlinge unvorstellbare Mengen an Steuergeldern. Hinsichtlich ihrer nutzbringenden Ergebnisse stagniere sie seit Jahrzehnten. Immer höhere Aufwendungen brächten keinen nennenswerten Gewinn. Die Relativitätstheorie aber habe ohnehin bisher keinerlei ökonomischen Nutzen gebracht.

Doch Hilfe naht! Er, Sallhofer, habe schon Ende der siebziger Jahre die formale Identität von Elektrodynamik und Quantenmechanik nachgewiesen! Ja, bereits 1959 habe er Schrödinger (einer der Väter der Quantentheorie) seine „Lichtdeutung“ vorgeschlagen, aber der habe leider abgewinkt.

Die Wende werde eintreten, entschlösse man sich endlich, alle Aktivitäten auf die Kernfusionsforschung zu konzentrieren und seine Entdeckung zu berücksichtigen. Dann könne die schon bald zu erwartende Lösung des Energieproblems uns nicht nur von allen Energienöten, sondern zugleich von den brennenden wirtschaftlichen und ökologischen Problemen befreien. Man möge für das Jahrtausendobjekt „Sonnenfeuer“ einen mit 100Millionen$ dotierten Sonder-Nobelpreis ausschreiben. Die Vision „... das Sonnenfeuer wird, so wir es einmal haben, das Kursgraphengestrüpp der Stromkonzerne und der Autobauer steil nach oben züngeln lassen, und die Shareholder wird ein warmer Regen von vielen Milliarden verwöhnen“, beschließt das Buch.

Ähnliche Vorschläge wie für die Neuorientierung der Quantenphysik hat Sallhofer für die Rückführung der verlorenen Tochter Relativitätstheorie zur Mutter Maxwelltheorie zu machen. Es würde hier zu weit führen, im einzelnen darauf einzugehen, zumal er auch nach zwanzig Jahren noch fast der einzige zu sein scheint, der sich von ihrer Befolgung etwas verspricht. Das als „Anmerkungen“ beigefügte Literaturverzeichnis läßt das jedenfalls vermuten.

Alle berechtigten Einwände, die sein Kontrahent, zurückgreifend auf die heute unter den Physikern fast einhellig angenommenen Theorien und Arbeitsmethoden, zunächst vorbringt, werden unbewiesen vom Tisch gefegt, und die im Appendix angeführten mathematischen Darlegungen bringen ebenfalls kaum Klarheit. Zu Sallhofers „grundlegenden“ Reformvorschlägen kann man nur fragen: „Was ändert das?“ Aber das hat ihm, wie er schreibt, schon vor einiger Zeit ein „bekannter deutscher Relativist“ (?) geantwortet, als er ihm seine Ideen darlegte, die die Relativitätstheorie widerspruchsfrei machen sollen.

Sallhofer legt auch seine Sicht physikhistorischer Prozesse dar. Man gewinnt den Eindruck, daß ein Verkannter, zu kurz Gekommener, mit unbewiesenen Behauptungen, Verdächtigungen und Vermutungen bis ins Intimste das Bild der bedeutendsten Physiker des Jahrhunderts tiefer zu hängen sucht, um damit ihre wissenschaftlichen Verdienste zu mindern. Einsteins politisches Vermächtnis wird genauso borniert und inkompetent bemäkelt wie andere Fakten aus der Wissenschaftsgeschichte und Politik. Man findet die in „nationalen“ Kreisen üblichen Klischees über Atombombe, Amerikaner, Russen, Kommunisten und Juden in enge Verbindung mit der Entwicklung der Physik gebracht. Warum aber dann noch elf Seiten folgen, um Thales’ Erklärung „Urgrund aller Dinge ist das Wasser“ pornographisch zu erläutern und Sallhofers Erlebnisse mit Freudenmädchen darzulegen, bleibt unerfindlich. Es wirft jedoch ein bezeichnendes Licht auf die Denkweise Sallhofers. Hat er auch hier Minderwertigkeitskomplexe?


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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