Eine Rezension von Michael Herms


Erinnerungen eines „Mitteldeckoffiziers“

Helmut Müller: WendeJahre 1949-1989

Verlag Neues Leben, Berlin 1999, 317 S.

 

Zehn Jahre nach der Wende meldet sich Helmut Müller, langjähriger 2. Sekretär der Berliner SED, mit seinen Erinnerungen zu Wort. Seine Vita verkörpert Typisches der mittleren Funktionärsebene der DDR, der sogenannten „Fackelträger-Generation“: Nach eigenem Erleben von Krieg und Zerstörungen betraten sie zur DDR-Gründung tatendurstig die politische Laufbahn, in deren Verlauf sie an nicht unbedeutenden Stellen den Aufbau und schließlich den Untergang des „realen Sozialismus“ miterlebten.

Müller (Jg. 1930) kam 1946 als fünfzehnjähriger Umsiedler aus dem Sudetenland nach Thüringen, wo er 1948 seine hauptamtliche Funktionärslaufbahn als Pionierleiter im FDJ-Kreisvorstand Eisenach begann. Seiner 18 Jahre währenden Karriere im Blauhemd folgte über ein paar Zwischenstationen ab 1971 eine ebenso lange als 2. Sekretär der Berliner SED-Bezirksleitung. Aus beiden Abschnitten fügt Müller persönliche Erlebnisse - Sternstunden wie Niederlagen in seiner Karriere - mit Fakten und Wertungen zu einem zeitgeschichtlichen Kolorit, zu einer lesenswerten Ergänzung wissenschaftlicher Abhandlungen über die DDR-Geschichte, zusammen. Obgleich man dem Text ein Ringen um selbstkritische Reflexion anmerkt, bleibt manche Verklärung nicht aus: „Ich erlebte die FDJ als eine Organisation, die sich die Jugend selbst geschaffen hatte, die von uns Jugendlichen selbst geleitet wurde, über deren Leben wir allein bestimmten. Eine lenkende oder gar gängelnde Hand von oben spürte ich nicht, weder von der SED, noch von staatlicher oder einer anderen Seite.“ Dieser Erinnerung an seine vorhauptamtliche Periode ergänzt Müller anderswo mit plastischen Beispielen des Mechanismus „lenkender Hände“, durch die SED und die sowjetischen „Freunde“.

Zunächst aber erlebte er einen scheinbar ungebremsten Aufbruch der organisierten DDR-Jugend mit den Großveranstaltungen der FDJ von 1950 und 1951 als Kulminationspunkt. Noch stärker beeindruckt zeigte sich der Jungfunktionär 1949 vom ersten Besuch in der Sowjetunion; dabei nicht minder von den Spuren der Zerstörung als von der gewaltigen Aufbauleistung oder vom großzügigen Krimferienlager in Artek: „Dabei zeigte man uns nur die ,gute Stube‘ ..., den ,Keller‘ sahen wir nicht.“ Dazu bekam Müller 1951/52 gelegentlich eines Jahreskurses an der Moskauer Komsomolhochschule nähere Gelegenheit. Abweichend vom dort vermittelten Bild bemerkte er, auch in Moskau „Diebe, Bettler und Taugenichtse“. Wie andere übersah er die negativen Erscheinungen geflissentlich, ohne die Langzeitwirkung des geschönten Blicks zu ahnen: „Das war jedoch nicht mein einziger Fehler, den ich nach dem Studium machte. Die erworbenen Kenntnisse über die Sowjetunion ... verleiteten mich dazu, mit der ,Moskauer Brille‘ das ganze weite Land ... zu beurteilen. Ich glaubte, die Sowjetunion und ihre Menschen richtig zu kennen. Das war natürlich ein großer Irrtum. Es war auch einer der Gründe für meinen Konflikt mit der Gorbatschowschen ,Glasnost‘. Ich wehrte mich gegen viele Mitteilungen über Mißstände und Erscheinungen des Verfalls und der Degenerierung, die mein ,SU-Bild‘ zerstörten. Es war ein schmerzlicher Prozeß sich einzugestehen, daß diese Meldungen nicht nur stimmten, sondern sogar nur die Spitze des Eisbergs darstellten.“

Nach seiner Rückkehr im Herbst 1952 registrierte Müller, nunmehr FDJ-Chef im Bezirk Gera, einen spürbaren Wechsel von der Aufbruchsstimmung zur Stagnation, deren Wirkungen nach Stalins Tod in den Aufstand vom 17. Juni mündeten. Die FDJ hatte durch Parolen und Kampagnen, mit der „Patenschaft über die Kasernierte Volkspolizei“, mit dem „Dienst für Deutschland“, mit ihrem Kampf gegen die Jungen Gemeinden und Andersdenkende, mit einem bürokratischen Apparat, mit „Zahlenhascherei“, Gigantomanie und mit Intoleranz sichtbar an Anziehungskraft verloren; in Thüringen „fehlten“ 1953 nach einer Umtauschaktion der Mitgliedsbücher 40 000 Mitglieder.

Von 1955 bis 1966 war Müller als Sekretär des FDJ-Zentralrats maßgeblich an der Umsetzung der Ulbrichtschen Jugendpolitik beteiligt. Diese schwankte in Zeiten von „Tauwetter“ und „Frostperioden“ sinusförmig zwischen Bemühungen um populäre Jugendarbeit und wiederkehrendem Dogmatismus. Das Jugendkommuniqué von 1963 und dessen „Beerdigung“ auf dem „Kahlschlag-Plenum“ 1965 mögen als Beispiele ausreichen, auf deren Motive und Hintergründe Müller spannend eingeht.

Quasi als „Tauschobjekt“ für einen abgesetzten Funktionär kam Müller 1966 als Abteilungsleiter in die SED-Bezirksleitung Berlin. Er erlebte den schleichenden Kampf Honeckers und seiner Vertrauten gegen das „Neue Ökonomische System“ und andere Reformansätze als ein Kernelement der Deinthronisierung Walter Ulbrichts. Die Niederschlagung des Prager Frühlings „brachte die schmerzliche, aber unwiderrufliche Erkenntnis, daß der ,reale Sozialismus‘ nicht reformierbar ist. Sollte eine solche Möglichkeit jemals bestanden haben, gab es sie jetzt nicht mehr. Das Haupthindernis bestand weniger in der stets heraufbeschworenen Gefährdung des Sozialismus durch das Wirken des Imperialismus, als vielmehr in den fest verankerten Auffassungen über das Wesen der Diktatur des Proletariats und der führenden Rolle der marxistisch-leninistischen Partei.“ Während Ulbrichts Kraft nachließ, wußte Honecker sehr genau, „was die Glocke geschlagen hatte, und stellte sich voll und ganz auf Breshnew ein“; vollzog Günter Mittag seinen Wechsel vom Hauptbetreiber des NÖS zu dessen Gegner. Heute schämt sich Müller für den unwürdigen Akt des Machtwechsels, für den er auf dem VIII. Parteitag einen persönlichen Auftrag bekam; damals setzte er, wie viele DDR-Bürger, große Hoffnungen auf den neuen Mann an der Spitze. Frischer Wind war nötig, Honecker schien bereit, ihn zuzulassen. Das Sozialprogramm, der forcierte Wohnungsbau, ein steigendes Realeinkommen, die Weltjugendfestspiele 1973 - populäre Maßnahmen, von der Bevölkerung begrüßt. Auch die Parteiarbeit änderte sich vorübergehend, aber „wie sich bald zeigte, war von dem neuen Stil der Parteiarbeit bald nicht mehr die Rede, und schließlich verflüchtigte sich auch sein Geist“. Als dessen „Endpunkt“ benennt Müller den IX. Parteitag, mit dem Honecker sich zum Generalsekretär und wenig später zum Staatsoberhaupt der DDR küren ließ.

Zur Festigung seiner Position holte Honecker ehemalige FDJ-Sekretäre in die Führung. Neuer Parteichef von Ost-Berlin wurde Konrad Naumann, Müller sein Stellvertreter. Das Duo kannte sich seit der Komsomolhochschule. Dennoch waren die Machtverhältnisse klar: Naumann, mit seinen guten Verbindungen „zum Erich“, war der unumschränkt herrschende „Erste“, Müller der ausführende „Zweite“. Naumann pflanzte ihm das Selbstverständnis ein, als „Mitteldeckoffizier“ für die Durchführung der Politik da zu sein und sie „nicht selbst zu erfinden“. Müller fand sich damit ab und stimmt heute einer Einschätzung Peter Benders zu: „An der Unfähigkeit und am Widerstand der mittleren Kader scheitert das meiste. Ganz oben, wo man einen Überblick hat, und ganz unten, wo man die Mißstände und den Mißmut der Leute unmittelbar zu spüren bekommt, können Einsicht und Reformwille ... entstehen, die Funktionäre dazwischen sind hingegen weit genug von der Verantwortung wie von den Folgen der Verantwortung entfernt, um ungerührt weiterzumachen.“ Das „ungerührt“ möchte er für sich streichen, aber „ansonsten machte ich weiter.“ Seine „Gläubigkeit an das richtige Urteil der sowjetischen und unserer Parteiführung“ hinderte ihn gleichsam an der Anerkennung der Kritik aus der „eurokommunistischen“ Ecke wie an der aus der eigenen Bevölkerung, zuerst der Künstler, dann der kirchlichen Friedens- und Umweltgruppen und schließlich eines Großteils der Bevölkerung.

Er erlebte, wie Honecker Eitelkeiten pflegte, sich zunehmend einigelte und sich neuer Gesichter überdrüssig zeigte. Als Naumanns exzentrischer Lebensstil unhaltbar wurde, mußte Honecker ihn im November 1985 feuern; er ersetzte ihn durch den bisherigen ND-Chefredakteur Schabowski. Für diesen erschöpfte sich die Leitungstätigkeit in stundenlangen Telefonaten mit Betriebsdirektoren und Kaufhallenleitern zur Verbesserung einer x-beliebigen Situation: Für notwendige Veränderungen fehlte auch ihm der Mut.

Müller erhielt in der Schreibphase den Rat, bei der Ursachenforschung „über die eigene Schmerzgrenze hinauszugehen“, um sich der Wahrheit nähern zu können. Daß er heute eine Hauptursache für das Scheitern des sozialistischen Systems in dessen genetischen Fehlern und im Überstülpen dieser Fehler auf ganz Osteuropa sieht und als Fazit die „Nichtreformierbarkeit dieser Art Sozialismus“ zieht, deutet die Bereitschaft dafür an.

Müllers Erinnerungen sind nicht nur aus dem Bauch geschrieben; vieles überprüfte er anhand von Quellen. Als häufiger Aktenleser im Bundesarchiv steht Helmut Müller in- und ausländischen Historikern als Zeitzeuge zur Verfügung. So nahm die Präsenz von etwa einem Dutzend Zeitgeschichtlern aus Ost und West zur Berliner Buchpremiere kaum wunder.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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