Eine Rezension von Walter Unze


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Begegnungen mit der Musik und den Musikern unseres Jahrhunderts

 

Hans Mayer: Gelebte Musik
Erinnerungen.

Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1999, 238 S.

 

Bereits in seinem Erinnerungsband Zeitgenossen (1998) hat der Literaturwissenschaftler Hans Mayer (1907) in kleineren und größeren Skizzen zu Persönlichkeiten seiner Zeit ein einzigartiges Jahrhundertbild gezeichnet. Das setzt er nun auf dem speziellen Gebiet der Musik fort. Eng an seine Biographie gebunden, erzählt er von seinen Begegnungen mit der Musik und den Musikern seines, unseres Jahrhunderts. Dabei scheut er sich nicht, seine ganz subjektiven Urteile zu fällen, immer mit der Betonung, daß er von der Musik zwar eine Menge verstehe, aber eben kein Musiker und auch kein Musikwissenschaftler sei.

Die Erinnerungen werden in drei Zeitetappen vorgetragen: I. Die zwanziger Jahre, II. Musik im Exil, III. Musik nach der Zerstörung. Zeitlich eingeordnet, aber doch in einer Sonderrolle, sind die Beiträge „Bemerkungen zu einer kritischen Musiktheorie“ aus dem Jahre 1938 und „Kulturkrise und Neue Musik“ von 1948. In diesen beiden, jeweils als Exkurs ausgewiesenen Artikeln geht es nicht um Erinnerungen, sondern tatsächlich um den Versuch, sich musiktheoretisch zu betätigen. Einmal handelt es sich um eine polemische Beschäftigung mit den Ansichten Theodor W. Adornos über den Fetischcharakter der Musik, zum anderen um eine Analyse des Zustandes der modernen Musik. „Kein Zeitalter vor uns hat mehr kulturelle Qualitäten verbraucht und produziert, keines größere Fragwürdigkeit aller geistigen und verbindenden Werte offenbart“, heißt es da. Der Leser sollte mit diesen beiden Exkursen die Lektüre beginnen, kennt er damit doch die theoretischen Ausgangspositionen des Autors, die man in den einzelnen Erinnerungsstücken dann immer wiederfindet.

In den drei Zeitetappen spielen die biographischen Bedingungen Hans Mayers eine besondere Rolle: die Musikerlebnisse in seiner Heimatstadt Köln und während der Studienzeit in Berlin, die Sicht auf die Musik nach der erzwungenen Emigration 1933, die Beschäftigung mit Musik und die Begegnung mit Musikern in jenen Jahren, die er in der DDR lebte. Durch alle Erinnerungen zieht sich die Erkenntnis, daß der 30. Januar 1933 der „absolute Wendepunkt unseres Jahrhunderts“ (vgl. S. 36) gewesen sei.

Man erlebt mit dem Autor einzelne Werke der Musik wie den „Rosenkavalier“ von Richard Strauss oder die „Dreigroschenoper“ von Bert Brecht und Kurt Weill, man erfährt interessante Details aus dem Schaffen zeitgenössischer Musiker wie Otto Klemperer oder Emanuel Feuermann, Arthur Rubinstein oder Dietrich Fischer-Dieskau.

Mayer kann natürlich nie verleugnen, daß die Literatur sein Spezialgebiet ist. Das wird immer dann sichtbar, wenn er auf die Wechselbeziehungen von Musik und Literatur zu sprechen kommt - man vergleiche dazu die Ausführungen zu Georg Büchner und seinem „Woyzeck“ im Verhältnis zu Alban Bergs „Wozzeck“ - oder wenn er zum Beispiel die Rolle von Thomas Mann bei der Bewertung von Musik charakterisiert. Der Roman Doktor Faustus über Adrian Leverkühn ist für Mayer „ein Buch vom Faschismus und ein Buch von den musikalischen Elementen im deutschen Wesen - und nicht zuletzt ein Buch über das Schicksal der Musik in unserer Zeit“.

Der Autor ist sich stets bewußt, daß er über ein Jahrhundert schreibt, das einzigartig in seiner Größe und in seinen Tiefen ist. Und doch bleiben die Erinnerungen persönlich, werden weder überhöht noch künstlich mit den gewaltigen Umbrüchen der Zeit verbunden. Es ist ein Buch, das auf eine ganz eigene Art neue Mosaiksteinchen in das große Bild vom 20. Jahrhundert einfügt, an dem am Ausgang dieses Jahrhunderts gewerkelt wird.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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