Eine Rezension von Gerhard Keiderling


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Der „stille Tod“ des Realsozialismus

 

Charles S. Maier: Das Verschwinden der DDR und der Untergang des Kommunismus
Aus dem Amerikanischen von Klaus Binder und Bernd Leineweber.

S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 1999, 592 S.

 

Darstellungen und Reflexionen, Dokumentationen und Chroniken über den Zusammenbruch der DDR wie des „sozialistischen Staatensystems“ insgesamt gibt es schon hinreichend. Was auf das hier vorzustellende Buch neugierig macht, ist die Außenansicht durch einen renommierten Beobachter. Charles S. Maier, Professor für Geschichte an der Harvard University, hat während eines Aufenthaltes im Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam von 1992 bis 1995 Archivstudien betrieben, die umfangreiche Fachliteratur ausgewertet und Gespräche mit Zeitzeugen geführt. Seine Ergebnisse legte er 1997 unter dem treffenderen Titel Dissolution. The Crises of Communism and the End of East Germany vor. Zwei Momente hätten ihn - so schreibt er im Vorwort - zu diesem Thema und zu dieser Eile bewogen: das Faszinosum, als Historiker den weltgeschichtlichen Umbruch von 1989/90 aus nächster Nähe festzuhalten, und das Bedürfnis, den Akteuren, die 1989 Geschichte machten, ein Denkmal zu setzen, das sie verdienten. „Die Geschichte des jüngstvergangenen Gesterns“ - nämlich „die Krise des Kommunismus darstellen und vom Ende Ostdeutschlands erzählen“ - „jetzt sofort schreiben“, sei sein eigentliches Anliegen gewesen. Fragen von Fachkollegen, „mit welcher neuen These“ er aufwarten könne, hätten ihn eher verwirrt.

In der Tat liegt der Vorzug des Buches im Narrativen, im Erzählfluß eines Geschehens, wie es aufregender nicht sein konnte: Ein kommunistischer Staat löst sich auf, ein riesiger Machtblock bricht zusammen, die weltpolitische Karte muß neu gezeichnet werden. Gleichzeitig entstehen in der sich auflösenden DDR neue westlich orientierte Strukturen, die den Übergang zur deutschen Einheit ermöglichen und einen Absturz der Ostdeutschen ins Bodenlose verhindern. Adressat dieser historiographischen Botschaft ist zunächst der amerikanische Leser, dem Maier die konkrete Kenntnis vom Ende des Kalten Krieges ebenso vermitteln möchte wie das Urteilsvermögen, „wie westliche Gesellschaften im Vergleich zu osteuropäischen funktionieren“. Diese Feststellung bedeutet keineswegs, daß das Buch den deutschen Leser wenig zu sagen hätte. Im Gegenteil, der US-Autor, der über ein großes Wissen über die DDR verfügt, hat wegen seiner individuellen Sicht, seines persönlichen Engagements, seiner akribische Forschung und der zeitlichen Nähe viel mitzuteilen.

Maier gliedert den zu beschreibenden Prozeß in sechs Kapitel. Im ersten Kapitel „Verlorenes Vertrauen“ gibt er eine kritische Momentaufnahme der DDR-Gesellschaft in ihrem 40.Jahr. Sodann schildert er den ökonomischen Zusammenbruch, den die Partei- und Staatsführung bis zuletzt vor der mißtrauisch gewordenen Bevölkerung verbergen konnte. Demoralisierung und Unzufriedenheit und vor allem die Ausreis(s)er und die Montagsdemonstrationen in Leipzig brachten eine scheinbar festgefügte „Diktatur des Proletariats“ ins Wanken. Ohnmächtig nahm die Führung des Regimes den Verfall ihrer Autorität wahr. Die „Herbstunruhen“ hätten „in einer blutigen Konfrontation enden können“, statt dessen führten sie zum „Volksfest“ vom 9. November 1989. Die „Protagonisten des Übergangs“ und der friedlichen Revolution stellt Maier im vierten Kapitel vor: die neuen Parteigründungen und demokratischen Foren, die Bürgerrechtsbewegungen und die „Runden Tische“. Sie konnten in dem Maße wirksam werden, wie das Machtmonopol der SED sichtbar zerbrach. Ein Reformierungsversuch aus der Staatspartei heraus kam zu spät, war überdies halbherzig und stieß in der Bevölkerung auf Ablehnung. Die ersten freien Wahlen vom 18. März 1990 beendeten nach Maier „die Revolution in der DDR“. Die Menschen „forderten jetzt nicht mehr Reformen und Freiheit, sondern die Einheit“. Die Dramatik des Vereinigungsprozesses im Sommer und Herbst 1990 bringt Maier auf zwei prägnante Formeln: 2=1 steht für die Währungs-, Wirtschafts-und Sozialunion vom 1. Juli 1990 und 2+4=1 für die diplomatische Sanktionierung der Vereinigung vom 12. September 1990. Der Vollzug der deutschen Einheit am 3.Oktober 1990 beendete nicht nur die schmerzvolle 45jährige Trennung der Deutschen, sondern auch die Teilung der Welt in zwei Machtblöcke.

Die Herstellung der „inneren Einheit“ ist Thema des letzten Kapitels „Anschluß und Melancholie“. Zutreffend urteilt Maier: „Die überwältigende Präsenz Westdeutschlands, in der ursprünglich das Heil gesucht worden war, machte es schwer für die Ostdeutschen, ihre eigenen historischen Leistungen in legitimer Weise anzuerkennen. ... Wie rasch ist die Euphorie in eine Opferhaltung umgeschlagen!“ Die gesellschaftliche Angleichung des Ostens, die Reprivatisierung des „Volkseigentums“, die massenhafte Abwicklung, der ausbleibende wirtschaftliche Aufschwung und dazu noch der „Makel der Stasivergangenheit“ erschweren noch heute das „Zueinanderkommen“.

Maier, der sich als vergleichender Historiker versteht, öffnet zum Schluß eine bemerkenswert provokante Perspektive: Die DDR, die „ein deutsches Regime, aber kein rein deutsches Unternehmen“ war, löste sich auf, weil der Spätkommunismus in toto zusammenbrach. Aber auch die fortgeschrittenen Staaten des Westens sahen sich am Ende des Kalten Krieges großen Zwängen gegenüber. „Die Unsicherheit, die die Menschen aus der DDR in das vereinte Deutschland mitbrachten, traf sich mit dem Unbehagen, von dem die ganze Gesellschaft ergriffen wurde. Mit ihrer auf das Jahr 1989 folgenden Melancholie drohen die Menschen aus der DDR ihren Landsleuten aus der alten Bundesrepublik in eine neue Epoche der verlorenen Sicherheit voranzugehen“. Ist ein solcher Ausblick trostvoll?

Insgesamt liegt hier eine vorzügliche, gut recherchierte (davon zeugt der umfangreiche Anmerkungsapparat), dem Forscher wie dem interessierten Leser viele Impulse gebende Analyse zu einer Thematik vor, die die Wissenschaft noch lange beschäftigen wird. Maier selbst legt großen Wert darauf, keine abschließenden Urteile geben zu wollen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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