Eine Rezension von Eberhard Fromm


Zeitzeugnisse

Gerhard Lozek (Hrsg.): Geschichtsschreibung im 20. Jahrhundert
Neuzeithistoriographie und Geschichtsdenken im westlichen Europa und in den USA.

FIDES Verlag, Berlin 1998, 484 S.

 

Zum Schicksal dieses Buches muß man das Vorwort des Herausgebers Gerhard Lozek lesen, damit man weiß, daß 1. der Text noch in der DDR entstanden ist, daß 2. zu Beginn der neunziger Jahre die geplante Veröffentlichung am Ausstieg des Mitherausgebers H. Schleier und der Absage des Verlages scheiterte und daß somit 3. ein Buch vorliegt, das mit acht Jahren Verspätung erscheint.

Nun sind acht Jahre für eine derartige materialreiche Sammlung mit Überblickscharakter eigentlich keine lange Zeit, zumal man nach ähnlich angelegten Analysen tatsächlich suchen kann. Doch wenn man bedenkt, welche gesellschaftlichen, politischen und geistigen Umbrüche in der Welt und auch in Deutschland in diesen Jahren stattgefunden haben, dann stellt sich die Frage nach dem Sinn eines so verspäteten Erscheinens schon schärfer. Zumal das Buch konsequent dabei geblieben ist, alle Einschätzungen mit den 80er Jahren enden zu lassen. Selbst das Literaturverzeichnis geht da keinen Schritt weiter.

Damit wird der Charakter des Zeitzeugnisses betont. Gerade darin sieht der Herausgeber einen gewichtigen Grund für das Erscheinen des Buches, das damit „für das Verständnis der DDR-Geschichtswissenschaft, deren Leistungen und Grenzen, aufschlußreich“ und geeignet sei, „den heute gängigen pauschalen Herabwürdigungen dieser Leistungen entgegenzuwirken“.

Die Autoren Konrad Irmschler (Großbritannien), Alfred Loesdau (USA), Gerhard Lozek (Bundesrepublik Deutschland), Peter Schäfer (USA) und Rainer Schnoor (USA) stammen aus Berlin, Jena und Potsdam; hinzu kommen die Kapitel über Frankreich und Italien von dem 1996 verstorbenen Jaroslav Kudrna aus Brno.

Eingeleitet wird das Buch mit einer Betrachtung zur „Historiographie im Wandel“, für die Gerhard Lozek und Konrad Irmschler verantwortlich zeichnen. Sie charakterisieren knapp die Beziehung von Geschichtsschreibung und Epoche-Zäsuren und skizzieren die theoretisch-methodologischen Ansätze der Historiographie nach 1945. Dabei benutzen sie zur Kennzeichnung verschiedener Richtungen Begriffe, die m. E. für die heutigen Leser zumindest inhaltlich bestimmt - vielleicht sogar neu bestimmt - werden müßten: So ist von „demokratischen, sozialreformistischen und auch liberalen“ Kräften die Rede, andererseits werden „liberale, reformistische und sozialdemokratische Historiker“, aber auch „sozialdemokratische bzw. sozialistische Geschichtsauffassungen“ unterschieden.

Der Aufbau der einzelnen Länderanalysen folgt einem vorgegebenen Zeitschema. Begonnen wird stets mit einer Betrachtung der Etappe vom Ausgang des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Ersten Weltkrieges. Eine Ausnahme macht nur das Kapitel zur Bundesrepublik Deutschland, das erst 1945 einsetzt. Der nächste Zeitabschnitt umfaßt die Zeit bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Danach folgt dann die Zeit bis in die achtziger Jahre. Am Ende jeder Länderanalyse steht ein Überblick über die historischen Organisationen, Institutionen und Publikationsorgane. Die einzelnen Autoren haben allerdings, entsprechend ihrem Gegenstand, die verschiedenen Hauptetappen noch einmal oder sogar mehrfach untergliedert.

Der Beitrag zu Großbritannien vermittelt einen kompakten Überblick über die britischen Historiker, ihre wichtigsten Vertreter, verschiedene Richtungen und Schulen sowie die vorwiegend behandelten Probleme und inhaltlichen Auseinandersetzungen. Gerade bei der Darstellung der Probleme und Auseinandersetzungen wäre es hier - wie auch in den folgenden Kapiteln zu Frankreich und Italien - überzeugender gewesen, neben die Feststellung einer Position auch den Beleg zu liefern, damit nicht der Eindruck bloßer Behauptungen entsteht. Es fällt auf, daß begründende Zitate so gut wie ganz fehlen.

Bei der Darstellung der Geschichtsschreibung in Frankreich und Italien geht der Autor teilweise bis in interessante Details, so wenn er sich recht umfänglich mit der französischen Annales-Historiographie befaßt oder wenn er zu den italienischen Historikern bzw. Philosophen Benedetto Croce, Gioacchino Volpe, Gaetano Salvemini und Antonio Gramsci Stellung bezieht. Auffällig sind hier einige recht apodiktische abwertende Urteile zu Historikern und ihren Positionen, wenn sie nicht mit dem Marxismus übereinstimmen - übrigens ein Problem des ganzen Buches!

Im Kapitel über die Vereinigten Staaten von Amerika - insbesondere im Abschnitt über die Zeit seit 1945 - fällt positiv auf, daß hier mit Belegen gearbeitet wird, so daß der Leser nicht einfach einer Behauptung des Autors glauben muß, sondern sie an der zitierten Position auch überprüfen kann. Kenntnisreich werden verschiedene Richtungen in ihrer Zeit („New History“, „Consensus history“, New social history“) beschrieben. Auch die Analyse der Hinwendung amerikanischer Historiker zur deutschen Geschichte und zur DDR-Entwicklung zeugt von hoher Sachkenntnis.

Der umfangreiche Beitrag zur Bundesrepublik Deutschland setzt mit einer Art Vorspann zur unmittelbaren Nachkriegsperiode in ganz Deutschland ein, bevor dann die Bundesrepublik in den Mittelpunkt der Darstellung rückt. Hierbei unterscheidet der Autor drei Etappen, nämlich die Zeit zwischen 1949 bis Mitte der 60er Jahre, die Zeit bis zum Ende der siebziger Jahre sowie die 80er Jahre.

Das Buch ist tatsächlich ein Zeitzeugnis und belegt mit seinem umfänglichen Material, daß in der DDR und der Tschechoslowakei unter Historikern intensiv gearbeitet wurde. Es zeigt natürlich auch, auf welcher theoretischen und politischen Grundlage die Fakten gesichtet, zusammengestellt und bewertet wurden.

Das Buch ist materialreich und gibt einen Überblick über die Geschichtsschreibung der letzten hundert Jahre in den behandelten Ländern. Diese Seite der Arbeit hätte durch ein Sach- und Personenregister, auf das leider verzichtet wurde, enorm gewonnen. Ob die Entscheidung glücklich war, keine gründliche inhaltliche Überarbeitung der Texte vorzunehmen, muß angezweifelt werden. Es geht dabei nicht um eine Ausdehnung auf die neunziger Jahre, was für eine exakte analytische Arbeit sicher nicht möglich war. Aber hilfreich für den Leser am Ende der neunziger Jahre wäre es gewesen, wenn der inhaltliche Kontext, aus dem heraus die Autoren die politischen und theoretischen Gruppenbildungen, Einschätzungen und Wertungen vorgenommen haben - einschließlich der dafür verwendeten Terminologie -, an einigen Stellen ausführlicher erläutert und begründet worden wäre. Und ganz sicher wäre dem Buch eine Zurücknahme der vordergründigen, manchmal geradezu beckmesserischen Bewertung von historischen Theorien und Historikern an ihrem Verhältnis zum Marxismus gut bekommen.

Im Chor der vielen Stimmen von bereits erschienenen und noch zu erwartenden Arbeiten zur Beschreibung und Bewertung einzelner Wissenschaftsbereiche des 20. Jahrhunderts kann sich diese Untersuchung sicher gut behaupten und auf einen vorderen Platz in den wissenschaftlichen Bibliographien zur Jahrhundertbetrachtung rechnen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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