Eine Rezension von Horst Wagner


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Faktenreiche Wendegeschichte

 

Egon Krenz: Herbst ’89

Verlag Neues Leben, Berlin 1999, 415 S.

 

Man kann zu Egon Krenz, seiner Verantwortung und seinen Verdiensten, seinen Versäumnissen und seiner Schuld, stehen wie man will - sein Buch gehört sicher zum Interessantesten und Faktenreichsten, was über die Geschehnisse des Herbstes 1989 geschrieben wurde. Wer sich ernsthaft mit der „Wende“, mit den Ursachen für das Scheitern der DDR beschäftigen will, wird an ihm nicht vorbeikommen. Das hat offenbar auch „Der Spiegel“ so gesehen. Da seine Leser, einem bekannten Werbeslogan zufolge, mehr wissen sollen, waren ihm die Erinnerungen des letzten SED-Generalsekretärs immerhin neun Seiten für einen Vorabdruck wert. In einer redaktionellen Einleitung kam das Nachrichtenmagazin hinsichtlich der Verurteilung von Krenz wegen der Todesschüsse an der Mauer zu dem Schluß: „Nur komplizierteste West-Juristerei macht es möglich, dem Mann ... die strafrechtliche Schuld für wenigstens ein paar der mehreren hundert Toten an der deutsch-deutschen Grenze in die Schuhe zu schieben.“ („Der Spiegel“ 35/99)

„Natürlich bin ich nicht frei von Schuld, was mein politisches Leben betrifft“, bemerkt Krenz gegen Ende seines Buches. „Es gehört zu den größten Niederlagen meines Lebens, daß ich die menschliche Tragik, das nicht wieder gut zu machende Leid, das von den tödlichen Schüssen an der Grenze für zumeist junge Menschen, für ihre Familien und Freunde ausging, nicht verhindern konnte.“ Andererseits stellt der Autor verständlicherweise seine Initiativen zur Ablösung Honeckers, seine (ihm übrigens auch im Urteil des Berliner Landgerichtes bescheinigten) Verdienste um den friedlichen Verlauf der Wende und die Öffnung der Grenze in der Nacht vom 9. zum 10. November 1989 heraus. Die tagebuchartigen Erinnerungen beginnen mit dem Spürbarwerden des Auseinanderdriftens der „sozialistischen Staatengemeinschaft“ auf der Bukarester Tagung der Warschauer Vertragsstaaten im Juli und der immer peinlicher werdenden Sprach- und Hilflosigkeit der DDR-Führung im August und September 1989. Ebenso dramatisch wie faktenreich wird der Weg zum erzwungenen Rücktritt Honeckers beschrieben. Aufschlußreich die Schilderung der Begegnungen und Gespräche, die Krenz als neuer Partei- bzw. Staatschef mit Gorbatschow und Jaruzelski, mit Kohl und Rau hatte. Ausführlich dokumentiert sind Krenz’ politische Initiativen und militärischen Befehle zur Verhinderung von Blutvergießen bei den Leipziger Montagsdemonstrationen wie für einen friedvollen Verlauf der großen Kundgebung auf dem Berliner Alexanderplatz am 4.11. Genaueres, als meines Wissens bisher bekannt, erfährt man über die 10. ZK-Tagung (die erste, auf der es echte Auseinandersetzungen gab), über die Vorbereitung einer neuen Reiseregelung und was in jener Nacht geschah, als sie - nicht ganz wie geplant - in Kraft trat.

Das Buch deshalb als selbstgerechte Rechtfertigung zu sehen, würde zu kurz greifen. Krenz geht durchaus nicht unkritisch mit sich und mit dem Staat um, dessen erster Mann er für fünfzig Tage war. Er versucht die (ihm oft gestellte) Frage zu beantworten, warum er Honecker nicht früher gestürzt habe. Er macht sich Gedanken über die auch von ihm mitgetragene Entstellung des Sozialismus. „Mehr und mehr ging die marxistische Erkenntnis verloren, daß der Mensch als höchster aller Werte das Ziel, nicht das Mittel der Politik ist... Habe nicht auch ich zugelassen, daß unsere Theorie auf willkürlich ausgewählte Zitate, Begriffe und Kategorien reduziert wurde?“ Krenz benennt Defizite in der „demokratischen Ausgestaltung“ der DDR. Er habe zwar selbst keine Wahlergebnisse gefälscht, trage aber politische Verantwortung dafür, daß es keine ehrlichen Wahlen, sondern Zahlenhascherei um eine möglichst hundertprozentige Zustimmung zur Politik der Partei- und Staatsführung gab. „Ich habe geduldet“, bekennt er, „daß sozialistische Ideale entstellt wurden.“

Natürlich bleiben Fragen offen. Ungenügend erscheinen mir bei Krenz Überlegungen, warum er seit seiner Wahl zum Generalsekretär am 18. Oktober 1989 eigentlich nur noch ein Getriebener der Ereignisse war. Zwar räumt er ein, daß seine Fernsehrede nach der Amtsübernahme unglücklich war und er sich besser einer offenen Diskussion mit Journalisten hätte stellen sollen. Aber es gibt keine Gedanken dazu, warum er nicht sofort das Verbot des „Neuen Forums“ aufhob (das erfolgte erst am 8. November) und sich mit den Vertretern der Bürgerbewegungen (denen er doch bescheinigt, auch für eine sozialistisch reformierte DDR gewesen zu sein) an einen Tisch setzte. Warum er nicht baldigst auf eine offene Diskussion in der Volkskammer drängte und statt dessen zuließ, daß seine Wahl zum Vorsitzenden des Staatsrates sowie des Verteidigungsrates als einziger Punkt auf die Tagesordnung der ersten Nachwendesitzung am 24. Oktober gesetzt wurde. Wäre es nicht an der Zeit gewesen, die Konzentration der Macht in den Händen einer einzigen Person zu beenden? Warum das Hin und Her in der Zusammensetzung des Politbüros und in der Frage Parteikonferenz oder Sonderparteitag? Trug all das nicht dazu bei, das Vertrauen zu Krenz auch in der eigenen Partei immer mehr schwinden zu lassen - bis hin zu seinem von ihm besonders schmerzlich empfundenen Ausschluß aus der SED/PDS? All das sind Fragen, die die Lektüre dieses Buches neu aufwirft. Wahrscheinlich wäre der Niedergang der DDR zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr zu verhindern, ein ehrenvollerer Abschied sowohl der Republik als auch der Person Krenz aber durchaus denkbar gewesen.

Neben weiterem Fragen- und Nachdenkenswerten bietet das Buch auch manch Neues und Überraschendes. Die näheren Umstände der Erkrankung Honeckers während der Bukarester Tagung seien hier ebenso genannt wie die vom sowjetischen Deutschlandexperten Falin in einem Gespräch mit Krenz und Modrow am 24. November vorgetragenen Gedanken zur Wieder- bzw. Neuvereinigung oder die Haltung einzelner Politbüro- und ZK-Mitglieder vor und nach dem 18. Oktober. Interessant und vielleicht auch Widerspruch hervorrufend Krenz’ Sicht auf Personen wie Mielke und Schalck, Hans Modrow und Markus Wolf. Zum oft gehörten Vorwurf, Gorbatschow habe die DDR verraten, schreibt Krenz: „Verrat aus Berechnung im Dienst einer ausländischen Macht schließe ich aus. Es gibt aber auch Verrat aus Schwäche, aus Eitelkeit.“ (S. 371)

Zu den Vorzügen des Buches gehören die saubere Dokumentation von Ereignissen, Personen und Zitaten, die verständliche Erklärung von Begriffen wie auch der fehlerfreie Druck und die gute Ausstattung. Man kann hoffen, daß es, wie es sich Egon Krenz im Abschlußkapitel wünscht, zu einer objektiveren Geschichtsdiskussion beiträgt. Zugleich möchte man Friedrich Schorlemmer zustimmen, der in einem hier dokumentierten Brief an Krenz schon 1997 schrieb, er sei erfreut darüber, „wie sehr Sie auch befreit worden sind durch die Demokratie, nämlich zu eigenem Denken und Formulieren. Was war das nur für eine Welt, in die Sie sich eingesperrt hatten.“ (S. 382)


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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