Eine Rezension von Ursula Reinhold


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Zeitwidersprüche - Lebenswidersprüche

 

Sven Hanuschek: Keiner blickt dir hinter das Gesicht
Das Leben Erich Kästners.

Carl Hanser, München 1999, 493 S.

 

Im Jahr des 100. Geburtstages von Kästner gibt es eine Reihe neuer Bemühungen um Leben und Werk des Autors. Der Münchener Germanist legt hier eine große Biographie vor, die vor allem durch ihren Materialreichtum, durch die zurückhaltende Art der Wertung und die umfassende Darstellung von Kästners Weg und Werk beeindruckt. Obwohl das Leben Kästners und sein Ringen mit den Widersprüchen der Zeit im Mittelpunkt stehen, bekommt auch das Werk des vielseitigen Autors das ihm gebührende Gewicht, werden an interessanten Beispielen Werke nach jeweils unterschiedlichen Aspekten betrachtet. Der Verfasser rückt Kästner mit seiner ganzen Widersprüchlichkeit ins Blickfeld. Er siedelt ihn als Autor zwischen der Intention des Aufklärers an, der mit Gebrauchstexten auf die Zeitläufte Einfluß nehmen wollte, und dem harmonisierenden Humoristen, der zur „Kitschhölle des Volksschriftstellers“ vergeblich auf Abstand zu gehen suchte. Die Darstellung des widersprüchlichen Lebensweges führt zu der unkoketten Einschätzung hin, die Kästner anläßlich der Verleihung des Büchner-Preises im Jahre 1953 über sich selbst gegeben hat: „Du bist ein zahmer Zirkuslöwe, nun komm, friß Lorbeer aus der Hand!“

Der Aufklärer Kästner, der durchaus auch politisch in der Zeit wirken wollte, zeigt sich in seinen satirischen Gedichten, mit seinen Attacken auf Untertanengeist und Militarismus, mit seinen prophetischen Beschwörungen politischer Katastrophen, die bis zu seinen politischen Kabarettexten in den 50er Jahren hinführen und ihn in den 50/60er Jahren als politisch radikalisierten Redner gegen erneute Militarisierung und Atombewaffnung auftreten lassen. Daneben steht der Verfasser humoristischer Prosa, der Autor zahlreicher Boulevardstücke und Filmdrehbücher, die kaum ihre Zeit überlebt haben. Hanuschek widmet den Kinderbüchern besondere Aufmerksamkeit, rekonstruiert Entstehungsgeschichte, Rezeption und Weiterverwertung der Texte. Sie erfreuen sich anhaltenden Publikumsinteresses und ließen den Autor weltberühmt werden.

Die Biographie hinterfragt an Hand von unveröffentlichtem biographischem Material, vor allem der vollständigen Briefe an die Mutter, die in der von Luiselotte Enderle besorgten Ausgabe aus dem Jahre 1981 erheblich frisiert und durch Auslassungen entstellt wurden, landläufige Legenden zu Kästners Herkunft, zu den Zweifeln, seinen Vater Erich Kästner betreffend, und zur vielbesprochenen Mutterbindung. Auch zu den Kriegserfahrungen des jungen Kästner und zu den Leipziger Studenten- und journalistischen Lehrjahren sowie zu seinen zahlreichen Liebes- und Lebensgefährtinnen trägt der Autor eine Fülle neuer Details zusammen. Die Berliner Jahre zwischen 1927 und 1933 waren für Kästner eine Zeit höchster Produktivität. Es bildete sich in dieser Zeit in seiner Arbeit für die Presse, für den Rundfunk und für den Film der Typ des vielseitigen, mit den neuen Medien arbeitenden Gebrauchsschriftstellers heraus, dessen Eigenart zweifellos das gängige Kästner-Bild geprägt hat. Es gelingt dem Autor, diesen zwischen Journalismus, Gebrauchstext und Kunstproduktion stehenden Schriftstellertyp zu kennzeichnen und dabei die Kultur- und Kunstszene der ausgehenden Weimarer Republik mit ihren Frontbildungen und Flügelkämpfen sichtbar werden zu lassen. Er betrachtet auch Kästners glücklose Versuche, sich als Dramatiker zu etablieren, während er ihn als urteilssicheren und umsichtigen Theaterkritiker porträtiert. Bereits 1930 gelang es Kästner, sich mit Emil und die Detektive als Kinderbuchautor zu etablieren, dessen Bücher auch in filmischer und dramatischer Form umgesetzt wurden. Für Kästners Entscheidung, 1933 in Deutschland zu bleiben, rückt der Biograph eine Fülle von Gesichtspunkten ins Blickfeld und vermeidet ein striktes Urteil, überläßt es eher dem Leser, sich ein Bild von den ergriffenen bzw. nichtergriffenen Lebensentscheidungen des Autors zu machen. Er stellt Kästners Lage zwischen Gefährdung, Rückzug in die Nichtöffentlichkeit, Kompromißbereitschaft, bei nicht nachlassender schriftstellerischer Produktivität dar. Es gibt viele Aufschlüsse über den Lebensalltag Kästners zwischen 1933 und 1945, von den politischen Gefährdungen und Einschränkungen, von den dennoch vorhandenen Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten, von seinen Reisen und Auslandspublikationen, von der Arbeit für die Ufa, von Freunden und Protegés und von Kästners Fähigkeit, sich kompensierenden Tätigkeiten und Vergnügungen hinzugeben. Der Autor hat eine Fülle von Texten recherchiert, z.B. Boulevardkomödien, die z.T. unter anderem Namen erschienen und an denen der Anteil Kästners noch zu klären ist. Neues habe ich auch über Kästners Tätigkeit in der „Neuen Zeitung“ erfahren, von seinen ausführlichen Bemühungen, die Emigrantenliteratur in Deutschland bekannt zu machen. Bis in die zweite Hälfte der 50er Jahre gibt es eine anhaltende Produktivität mit Stücken und Prosabüchern für Kinder (Konferenz der Tiere, Das doppelte Lottchen,) und Erwachsene (Als ich ein kleiner Junge war, Notabene 45, Die Schule der Diktatoren), Gedichten, Songs und Kabarettexten (Der tägliche Kram [1948], Die kleine Freiheit [1952]), Filmdrehbüchern, Nacherzählungen. Danach schöpft er in zunehmendem Maße aus dem Bestand seines Werkes und zeichnet als Herausgeber kompromißbereiter Humor-Anthologien. Das letzte Jahrzehnt zeigt einen von Krankheit und ungelösten privaten Konflikten gezeichneten Autor, dessen Produktivität versiegt war und der die Rolle des Schriftstellers nur mehr spielte.

Hanuschek hat für seine Darstellung viele Zeitzeugen befragt und eine Fülle gedruckten und ungedruckten Materials ausgewertet. Er gelingt ihm, das biographische Material so zu verarbeiten, daß die Lebenssensationen sich niemals verselbständigen, sondern als Quelle und Bedingungsgefüge sichtbar werden, als Teil der Widersprüche, an denen der Mensch und Autor sich abzuarbeiten hatte. Er trägt so Bausteine des spezifischen Schriftstellertyps zusammen, den Kästner verkörpert. Dazu tragen auch die Werkinterpretationen bei, die der Biograph in Auswahl heranzieht. Es ist hier weniger der bekannte Zeitsatiriker, bei dem der Autor ausführlicher wird, sondern er beschäftigt sich mit in unterschiedlicher Hinsicht wichtigen Werken. So gilt ein Kapitel dem Fabian und ein weiteres dem eher einfacher Unterhaltung verpflichteten Roman Drei Männer im Schnee. An „Münchhausen“, dem Drehbuch für einen 1941 gedrehten Ufa-Film zeigt er Kompromißbereitschaft und deren Grenzen. Das Prosabuch Notabene 45 und das Stück „Die Schule der Diktatoren“ beschäftigt ihn ebenfalls aus sehr spezifischem Interesse. Außerdem behandelt er als die letzten wichtigeren Texte Kinderbücher, u.a. Der kleine Mann und die kleine Miss, die Kästner in den 60er Jahren für seinen Sohn geschrieben hat. Für mich waren die Ausführungen zu Fabian aufschlußreich, obwohl hier keine umfassende Interpretation des Romans versucht wird. Indem der Autor Identifikation und Distanz im Welt- und Geschichtsbild des autobiographischen Romanprotagonisten aufzeigt, gelingt es, die moralische Appellstruktur des Roman als Reaktion auf bestimmende Zeitfragen darzustellen. Aufschlußreich ist hierbei der Nachweis der Rezeption von Herbert Georg Wells Vorstellungen über die Macht der Propaganda, die bald darauf ihren praktischen Nachweis bekommen sollten. An Drei Männer im Schnee hat Hanuschek die Veränderung dargelegt, die Kästner an der Romanhandlung bei einem Stoff aus den Weimarer Jahren vollzog, um das Buch während der Nazi-Zeit publizieren zu können. Obwohl es in der Schweiz gedruckt wurde, muß er die Aufsicht der Nazi-Behörden fürchten und ging Kompromisse ein, um einigermaßen unbehelligt leben zu können. Er hat aus einer sozialkritischen Fabel eine humorige Verwechslungsgeschichte gemacht. Ähnliche Kompromißbereitschaft läßt sich auch am „Münchhausen“-Drehbuch feststellen. Notabene 45 und Die Schule der Diktatoren wertet der Autor als die wohl ambitioniertesten Arbeiten Kästners, die beide unter den eigenen Erwartungen blieben. Kästner hatte sein Bleiben in Deutschland u.a. auch damit gerechtfertigt, daß er den Roman des Alltags unter dem Nazi-Regime schreiben wolle. Von dieser Intention zeigt sich Notabene 45 belastet, ohne sie erfüllen zu können. Kästner mißtraute offensichtlich seinen authentischen Tagebuchaufzeichnungen aus den vierziger Jahren und fügte ihnen eine Kommentarebene ein, die die authentischen Überlieferung verwässerte, ohne eine gültige Darstellung der Lebens- und Zeitverhältnisse geben zu können. Die sichtbare Metaphorisierung der politischen und geschichtlichen Erfahrung erbrachte wenig analytische Aufschlüsse.

Die vorliegende Kästner-Biographie zeichnet sich vor allem dadurch aus, daß sie ein Beitrag zur Kästner-Forschung ist, indem sie biographische Legenden zerstört und auch die Seiten des Werkes beleuchtet, die gemeinhin nicht im Mittelpunkt des Interesses an diesem Autor stehen. Der Materialwert des Buches wird durch einen umfangreichen Anhang komplettiert. Zu ihm gehört ein Anmerkungsteil mit Materialbelegen aus Unveröffentlichtem und Veröffentlichtem sowie Angaben zu weiterführender Literatur. Außerdem enthält der Anhang eine Bibliographie der Erstausgaben Kästners, darunter auch die pseudonym erschienenen bzw. mit anderen Autor gemeinsam verfaßten Werke. Außerdem hat der Verfasser eine knappgefaßte Filmographie zusammengestellt, die Drehbücher, Drehbuchmitarbeit und Verfilmungen von Kästner-Stoffen enthält. Ein Personenregister und ein Verzeichnis der Werke Erich Kästners erhöhen den ohnehin großen Gebrauchswert des Buches.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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