Eine Rezension von Thomas Keiderling


Alles über das Lesen

Handbuch Lesen
Im Auftrag der Stiftung Lesen und der Deutschen Literaturkonferenz
herausgegeben von Bodo Franzmann, Klaus Hasemann, Dietrich Löffler und Erich Schön unter Mitarbeit von Georg Jäger, Wolfgang R. Langenbucher und Ferdinand Melichar.

K. G. Saur Verlag, München 1999, 690 S.

 

Als auf der diesjährigen Leipziger Buchmesse das voluminöse Handbuch zur Geschichte, Gegenwart und Perspektive des Lesens erstmals der Öffentlichkeit präsentiert wurde, kam sofort die Frage: Wozu brauchen wir gerade jetzt ein derartiges Buch? Die anwesenden Herausgeber waren um eine Antwort nicht verlegen und zitierten aus ihrem Vorwort: „Dieses Handbuch erscheint zu einem Zeitpunkt, zu dem unter dem Stichwort ,Multimedia‘ heftig darüber diskutiert wird, inwieweit das Lesen vom bedruckten Papier auf den Bildschirm überwechselt, ob die neuen Medien das herkömmliche Lesen ganz verdrängen oder nur ergänzen werden bzw. wie sich das Lesen unter den geänderten Bedingungen selbst verändern wird.“

Konzeptionell stellt das Handbuch - das sei vorwegnehmend festgestellt - eine gelungene intellektuelle Leistung dar. Gegliedert nach Schwerpunkten, ermöglicht es einen leichten Zugang zu dem facettenreichen Gebiet des Lesens. Am Ende eines jeden Kapitels geben die Autoren eine Liste der verwendeten und empfehlenswerten Grundlagenliteratur an. Allerdings hätte man nicht darauf verzichten sollen, die Ergebnisse der einzelnen Studien am Schluß derselben thesenhaft zusammenzufassen, wie dies in wissenschaftlichen Arbeiten allgemein üblich und für Handbücher wünschenswert ist.

Den Auftakt bildet ein umfangreicher Aufsatz von Erich Schön zur Geschichte des Lesens von der Antike bis 1945. Schön führt sprachgewandt durch die einzelnen Zeiträume. Seine Schätzwerte zur Buchproduktion wie zur Größe des jeweils wirklich lesekundigen Publikums berücksichtigen die Quellenkritik und repräsentieren den neuesten Stand der Forschung. Heinz Bonfadelli kann in seiner sozialwissenschaftlichen Studie zum heutigen Leser und Leseverhalten auf gesichertes statistisches Material zurückgreifen und liefert somit einen viel detaillierteren Einblick in das Leseverhalten, als dies für frühere Jahrhunderte möglich ist. Bonfadelli stellt fest, daß das Buch bislang seinen Platz im Mediengesamtsystem behaupten konnte, wenngleich dieser Befund auf der individuellen Ebene sehr unterschiedlich aussehe. So lesen Frauen mehr als Männer, „und sie tun dies zudem deutlich häufiger zur Unterhaltung, während Männer Bücher stärker zur Information oder zur Weiterbildung nutzen“.

Nach dieser historischen Rückschau wenden sich die beiden folgenden Beiträge der Psychologie und Neurobiologie des Lesens zu. Im Aufsatz von Marc Wittmann und Ernst Pöppel, zwei medizinischen Psychologen der Ludwig-Maximilians-Universität München, findet ein gekonnter Brückenschlag zu den Naturwissenschaften statt. Der Lesevorgang wird neurowissenschaftlich analysiert. Es wird deutlich, wie die Lesefähigkeit unser Denken seit dem Kindesalter prägt und schult. Dabei gibt es Unterschiede zu anderen Kulturkreisen wie z. B. China und Japan, wo hochkomplexe Piktogramme das visuelle Gedächtnis stärker ausprägen und somit andere Bereiche des Gehirns trainieren. Die Folge sei auch eine andere Denkweise.

Ein dritter Schwerpunkt ist den Medien gewidmet. Dietrich Kerlen schreibt über die Druckmedien, Klaus Gerhard Saur über die elektronischen Medien und Ernst Fischer über die Bibliographie „Elektronische Medien“. Damit wird ein Vorzug dieses Handbuches deutlich: Die Autoren beschränken sich nicht auf traditionelle Träger wie das Buch oder die Zeitung, sondern beziehen die neuen Medien in die Gesamtschau ein. Denn - so argumentieren sie zu Recht - nicht das Medium allein sei entscheidend, sondern der Inhalt der Texte, den es zu transportieren gilt. Mit dem Wandel des Mediums ist ein Prozeß angesprochen, der in der Wirtschaft bereits seinen Niederschlag findet. Viele Buch- und Zeitschriftenverlage haben den Weg nach vorn angetreten und bieten ihre Produkte schon in elektronischer Form an. Die Auswirkungen dieser Entwicklung berücksichtigen auch die folgenden Artikel von Gerhard Plumpe und Ingo Stöckmann über das Autoren-Leser-Verhältnis, von Dietrich Löffler über die Zensur, von Christian Uhlig über den Buchhandel und von Georg Ruppelt über die Bibliotheken. Besonders der Aufsatz von Christian Uhlig zur Geschichte, Struktur und Entwicklungstendenz des Buchhandels zeigt die Vielschichtigkeit des Wandels auf dem Medienmarkt. Auch wenn McLuhan bereits in den sechziger Jahren den Untergang der „Gutenberg-Galaxis“ prophezeite, so sind doch noch nie so viele Bücher verkauft worden wie heute. Neben den altbekannten Vertriebsformen, wie dem Zwischen- und Sortimentsbuchhandel, Waren-, Bahnhofs- Reise-, Versandbuchhandel und den Buchklubs, etabliert sich der Internetbuchhandel mit hohen Wachstumsraten.

Den Schlußteil des Handbuches bestimmen die auch international aktuell gewordenen Fragen der Lesefähigkeit und Grundqualifikationen von Schülern und Erwachsenen.

Andreas Baer u.a. untersuchen die „Politischen Rahmenbedingungen der Lesekultur“ in der Bundesrepublik von heute. Anne Buhrfeind u.a. sowie Bodo Franzmann stellen die wichtigsten Institutionen der Leseförderung in Deutschland, in Österreich und in der Schweiz (auch mit ihren Adressen) vor. „Lesen- und Schreibenlernen in der Erwachsenenbildung“ (Ekkehard Nuissl) und „Lesesozialisation, Literaturunterricht und Leseförderung in der Schule“ (Mechthild Dehn u.a.) sind weitere Themen. Der durch zahlreiche Abbildungen aufgelockerte Schlußbeitrag von Jutta Assel und Georg Jäger „Zur Ikonographie des Lesens - Darstellungen von Leser(inne)n und des Lesens im Bild“ betrachtet ausgewählte Bilder unter kultur- und sozialhistorischen Aspekten als Quelle für die Lese(r)geschichte. Er hätte einen vorderen Platz im historischen Teil des Handbuches verdient.

Insgesamt handelt es sich beim Handbuch Lesen um eine vorzügliche Gesamtschau, die vielfache Anregungen für vertiefende Betrachtungen und Forschungen gibt. Es ist den Herausgebern gelungen, kompetente Autoren für die einzelnen Aufsätze zu verpflichten. Hoffentlich findet das Handbuch trotz eines Ladenpreises von 250 DM den breiten Leser- und Nutzerkreis, den man ihm nur wünschen kann.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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