Eine Rezension von Herbert Schwenk


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Aus einer Randlage im Ost-West-Konflikt in das Zentrum des neuen Europas

 

Manfred Görtemaker: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland
Von der Gründung bis zur Gegenwart.

Verlag C. H. Beck, München 1999, 915 S.

 

Kaum etwas ist so sehr mit Vorurteilen belastet wie die Geschichte und die Historiker. Kaiser Napoleon (1769-1821) scheute sich nicht, Geschichte „die Lüge, auf die man sich geeinigt hat“, zu nennen, und Dramatiker Oscar Wilde (1854-1900) sah mit üblicher Bissigkeit in ihr „nichts als Klatsch“. Der Schweizer Diplomat und Historiker Carl Jakob Burckhardt (1891-1974) glaubte, daß an die historische Wahrheit „eigentlich nur die Dichter“ herankommen, und der englische Dramatiker John Osborne (geb. 1929) mutmaßte, daß die Historiker gar so etwas „wie die Schminkmeister des großen Welttheaters“ seien. Vieles ließe sich gegen solche und ähnliche Vorurteile anführen - auch das vorliegende Buch von Manfred Görtemaker. Der Autor, Jahrgang 1951 und seit 1992 Professor für Neuere Geschichte an der Universität Potsdam, legt nicht nur ein an Umfang, Tiefe und Gründlichkeit beachtliches Werk vor, das seinesgleichen in der zeitgeschichtlichen Literatur sucht. Er beweist auch reichlich Mut und Selbstvertrauen, mitten in einem Wandlungsprozeß von historischer Dimension eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zu verfassen. Er zeigt dabei, daß Geschichte weder Lüge noch Klatsch ist und Historiker keineswegs „Schminkmeister“ sein müssen.

Görtemakers Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist eine empfehlenswerte Lektüre für alle, die sich um Aufarbeitung des in den vergangenen fünf Jahrzehnten selbst Erlebten bemühen. Sein Buch vermittelt eine Fülle von Daten und Fakten, Hintergründen und Einsichten, Zusammenhängen und Wertungen. Dem Leser werden dramatische Momente jüngster deutscher Geschichte vor Augen geführt, die sich mit den spannendsten Vorgängen deutscher Geschichte früherer Jahrhunderte messen können. So etwa das Geschehen beim Zustandekommen der Ostverträge Anfang der 70er Jahre oder der deutschen Einheit im Übergang zu den 90er Jahren. Dabei werden auch komplizierteste Sachverhalte übersichtlich und in verständlicher Sprache dargestellt. Das Buch offenbart besonders dem Leser aus der ehemaligen DDR viel Neues. Es hellt auf, was ihm bislang unbekannt war, und korrigiert, was durch SED, Medien und Lehranstalten verzerrt und negiert worden war. Dazu gehören zum Beispiel genauere Angaben über die sowjetischen Reparationsforderungen und -praktiken, Zahlen über das Ausmaß der Vertreibung, über die „stille Partnerschaft“ zwischen der EG und der DDR, über Pläne zum Bau einer „Mauer“ schon 1952 oder über Details der Moskauer und Warschauer Gespräche Egon Bahrs sowie der vier Mächte über Berlin. Mitteilungen wie die, daß Eduard Schewardnadse im November 1989 sogar eine Situation „am Rande eines Dritten Weltkrieges“ annahm und Valentin Falin für einen Gewalteinsatz in der DDR eintrat, werden allerdings nicht nur Leser in der ehemaligen DDR verblüffen. Besonders gelungen ist die knappe, aber durchgängige Einbettung der Geschichte der Bundesrepublik in wesentliche weltgeschichtliche Zusammenhänge, insbesondere in die wechselnden Rahmenbedingungen, Krieg und Frieden betreffend.

Zu den bemerkenswertesten Aspekten des Buches gehören seine Anlage und Struktur. Die Gliederung in sieben Teile folgt nicht allein üblicher Chronologie des Geschehens, sondern ist eine geschickte Mischung aus traditioneller chronologischer und einer mehr an Schwerpunkten des gesellschaftlichen Lebens orientierten Darstellung der Bundesrepublik. Während einige Teile vor allem die Stationen des gesamtpolitischen Geschehens nachzeichnen, widmen sich andere schwerpunktmäßig der Entwicklung einzelner Bereiche der westdeutschen Gesellschaft. Besonders heben sich dabei der zweite Teil „Wirtschaft und Gesellschaft“, der dritte Teil „Wiederaufbau der Kultur“ und der vierte Teil „Entscheidung für den Westen“ heraus, in denen nacheinander der Weg des Wirtschaftswunders der sozialen Marktwirtschaft, der sozialen Modernisierung der Gesellschaft, des politisch-geistigen Umbruchs des Wertesystems, der kulturellen Neugestaltung sowie der außenpolitische Weg in die Westintegration verfolgt werden. Indem dem Leser die politischen, sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und außenpolitischen Grundlagen der Bonner Republik vor Augen geführt werden, erhält er neue Zugänge zur Frage nach der Stabilität der bundesdeutschen Gesellschaft. Mit seinem Reichtum an Daten und Fakten gleicht Görtemakers Buch streckenweise einem Handbuch zur BRD, zum Beispiel bei der Darstellung der demographischen Entwicklung der Bundesrepublik mit ihren „Verwerfungen“ und „Wanderungsbewegungen“ einschließlich der darüber bestehenden Theorien oder auch bei den zahlreichen biographischen Angaben zu den bedeutendsten Politikern der Bundesrepublik.

Wo viel Licht ist, können Schatten nicht ausbleiben. Das sind zunächst gewisse Probleme, die sich aus der Anlage und Struktur des Buches ergeben. Durch die Mischung von chronologischer und bereichsorientierter Darstellung werden nicht geringe Anforderungen an den Leser gestellt, insbesondere in bezug auf die synoptische Sicht der gesamten Gesellschaft, aber auch die Chronologie infolge des häufigen „Vor und Zurück“. Gelegentlich erscheinen auf diese Weise historische Sachverhalte in verschiedenen Zusammenhängen doppelt. Einige für die Geschichte bedeutsame Tatsachen wünschte sich der Rezensent stärker berücksichtigt, zum Beispiel detailliertere Angaben zur Vielfalt des Alltagslebens des Volkes und vor allem eine wesentlich fundiertere Analyse des ökonomischen Systems, das heißt eine stärkere Beachtung der wirtschaftlichen Machtverhältnisse, des Einflusses des Großkapitals, insbesondere der Großbanken, auf die Politik.

Ein weiteres, ebenfalls nicht allein methodisches Problem ist die weitgehende Ausklammerung der DDR aus der „Geschichte Deutschlands“. Der Autor ist sich dieser Problematik bewußt, wenn er vorwarnt: „Die Geschichte Ostdeutschlands - bzw. der DDR bis 1989/90 - wird jedenfalls nur in dem Maße einbezogen, in dem sie für die Entwicklung der Bundesrepublik von Bedeutung war. In dieser Beschränkung liegt ein Problem, das zumindest einer Begründung, wenn nicht gar einer Rechtfertigung bedarf.“ (Vorwort) Görtemaker meint, der „hohe theoretische Anspruch [der DDR], einen im Vergleich zur Bundesrepublik und zu früheren deutschen Herrschaftssystemen ,besseren‘ deutschen Staat zu schaffen, bedarf im Hinblick auf seine fehlgeschlagene Realisierung einer genauen Untersuchung.“ Das mag so sein. Nur er verkennt, daß ebendieses gescheiterte „Modell DDR“ einen mehr oder weniger großen Einfluß auch auf die innenpolitische Situation der BRD, beispielsweise auf die Sozialpolitik und Militärpolitik, hatte, der in einer profunden komplexen Geschichtsbetrachtung wie der vorliegenden gebührend berücksichtigt werden muß. So wäre es interessant, etwa den Einfluß der Politik der Reformansätze Walter Ulbrichts (1893-1973) zwischen 1967 und 1970 auf das politische Denken in Bonn zu beachten. Die ostdeutsche Geschichte wird nur in zwei von sieben Teilen verknappt einbezogen: im ersten Teil „Die Gründung der Bonner Republik“ und im letzten Teil „Einheit und Neubeginn“. In den dazwischenliegenden fünf Teilen sind die vierzig Jahre DDR-Geschichte so gut wie ausgeklammert und werden lediglich im deutsch-deutschen Zusammenhang tangiert. So heißt es beispielsweise nur beiläufig bei der Kennzeichnung der veränderten „Lage der Arbeiter“ in der Bundesrepublik, daß „im Vergleich zu anderen Ländern, nicht zuletzt dem ,Arbeiter- und Bauernstaat‘ der DDR“, Benachteiligungen wie geringere Bildungschancen und schlechtere Einkommensentwicklung „nur selten als Problem empfunden“ wurden. In diesem Zusammenhang fällt auch auf, daß der Autor laut Quellen- und Literaturverzeichnis die vielfältige und umfangreiche wissenschaftliche Literatur zur Bundesrepublik, die von Wissenschaftlern der DDR verfaßt wurde, ignorierte. An Hochschulen und Universitäten der DDR, am Institut für Politik und Wirtschaft (IPW) in Berlin-Ost und anderen Einrichtungen wurden manche Arbeiten, darunter viele Dissertationen, zur BRD verfaßt, die nicht mit „SED-Propaganda“ abgetan werden können.

Görtemaker verzichtet zwar weitgehend auf Klischees und Parteienwerbung und scheut sich nicht, auch Wahrheiten zu benennen, die nicht jedermann gerne liest bzw. hört (wie zum Beispiel die Tatsache, daß die Transformation der Wirtschaftsordnung und Sozialstruktur im Zuge der deutschen Einheit für die Bevölkerung Ostdeutschlands „nicht nur Vorteile“ brachte). Unbeschadet dessen sind einige seiner Wertungen problematisch und manche These anfechtbar. So vermag er dem kritischen Leser nicht plausibel zu machen, warum er die Jahre der SPD-Regierungen Brandt und Schmidt als „Umgründung der Republik“ auffaßt (Teil V). Manche Urteile erscheinen oberflächlich, etwa wenn er die bemerkenswerte Zufriedenheit des überwiegenden Teils der Bevölkerung der BRD mit dem politischen und ökonomischen System bereits als „die Widerlegung von Karl Marx“ oder den Protest von 1968 als „Irrationalität“ wertet.

Was Berlin betrifft, so findet das West-Berlin-Geschehen in Görtemakers „Geschichte Deutschlands“ weitgehend Beachtung. Sowohl die Geschichte der Spaltung der Stadt als auch ihre Rolle im Kalten Krieg und bei der Entspannung und schließlich bei der Wiedervereinigung wird im Buch nachgezeichnet. Er zeigt, daß die neue Ostpolitik unter Willy Brandt (1913-1992) nicht in Bonn, sondern in Berlin entstanden ist. „Nirgendwo hatte die Sowjetunion seit 1945 so leichtes Spiel gehabt, die Spannungsschraube des Kalten Krieges nach eigenem Gutdünken anzudrehen oder zu lösen, nirgendwo waren die geographischen, politischen und wirtschaftlichen Ausgangsbedingungen für den Westen so schwierig wie in Berlin“, lautet eine seiner Prämissen. Die Brandt-Regierung betrachtete Berlin Anfang der 70er Jahre „als einen Testfall für die Entspannung“.

Görtemakers Buch schließt mit Betrachtungen „Von der Bonner zur Berliner Republik“. Das geeinte Deutschland sei aus einer Randlage im Ost-West-Konflikt in das Zentrum des neuen Europas gerückt. Dabei spiele Berlin eine bedeutende Rolle: „In der neuen Hauptstadt Berlin spiegeln sich wie in einem Brennglas die Probleme eines Kontinents, dessen Grenzen offener und dessen soziale Gegensätze größer geworden sind. Die Bundesregierung wird sich diesen Spannungen in der Metropole Berlin weniger entziehen können als im kleinstädtischen Bonn.“ Görtemaker ist zuversichtlich, daß sich die Berliner Republik „kaum allzu weit von ihren Bonner Traditionen“ entfernen werde. Die Entstehung eines „Vierten Reiches“ erscheine angesichts der neuen inneren und äußeren Bedingungen „ausgeschlossen“. Auch die Berliner Republik bleibe „ein stabiler und verläßlicher Partner des Westens mit demokratischer Grundhaltung“.

„Aus dem Geschehenen wollen wir auf das schließen, was geschehen kann“, mahnte schon 1762 Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) in seiner Schrift Der Gesellschaftsvertrag. Auch Görtemakers Buch kann an der Schwelle zum 21. Jahrhundert in diesem Sinne verstanden werden.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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