Eine Rezension von Horst Wagner


cover  

Ein außergewöhnliches Journalistenleben

 

Karl-Heinz Gerstner: Sachlich, kritisch, optimistisch
Eine sonntägliche Lebensbetrachtung.

Edition Ost, Berlin 1999, 448 S.

 

Er wurde zwei Jahre vor Beginn des Ersten Weltkrieges geboren und hatte zwei Väter. Der natürliche, der Diplomat Dr. Karl Ritter, weckte sein Interesse an der Außenpolitik und ebnete ihm den Weg zum „diplomatischen Hilfsarbeiter“ in Paris. Der juristische Vater, Dr.Paul Gerstner, hielt Ökonomie-Vorlesungen in der historischen Kapelle an der Spandauer Straße und wollte Karl-Heinz zum Wirtschaftsprüfer machen, woraus nach 1945 der Beruf des Wirtschaftsjournalisten wurde. Noch zur Kaiserzeit eingeschult, war Gerstner Pfadfinder in der Zeit der Weimarer Republik, hatte als Jura-Student, der gleichzeitig am Devisenschalter der Deutschen Bank jobbte, den späteren Bundeskanzler Kiesinger als Repetitor, unterhielt als Vertreter der Nazi-Besatzungsmacht Kontakte zur französischen Résistance, war gleich nach Kriegsende stellvertretender Bürgermeister in Wilmersdorf, wurde dann von den Engländern verhaftet, von den Russen ins Lager Hohenschönhausen gesperrt und trotz alledem ein sachlicher, kritischer, optimistischer Propagandist des Sozialismus in den Farben der DDR. Es ist schon ein außergewöhnliches, zuweilen abenteuerlich anmutendes Leben, aus dem der nun im 87. Lebensjahr stehende Dr. Karl-Heinz Gerstner in seiner spannend zu lesenden Autobiographie erzählt.

Ihr Titel geht auf die Worte zurück, mit denen Gerstner seine sonntäglichen Wirtschaftsbetrachtungen im DDR-Rundfunk schloß. Durch diese Sendungen und durch das von ihm moderierte Fernsehmagazin „Prisma“ ist Gerstner republikweit bekannt geworden. Seine eigentliche journalistische Heimat aber hatte er in der „Berliner Zeitung“, der er - erst als Leiter der Wirtschafts-Redaktion, dann als Chefreporter - von 1948 bis 1989 angehörte. Mir, wie wahrscheinlich auch anderen Kollegen im Berliner Verlag, erschien er immer als so eine Art Gentleman-Genosse: drahtiges Aussehen, tadellose Umgangsformen, charmant zu den Frauen, manchmal ein bißchen abgehoben, aber immer freundlich und hilfsbereit, nicht unkritisch, doch immer politisch korrekt im Sinne der „Generallinie“. Man konnte ihn schon für einen Diplomaten der alten Schule halten. So liest man nun mit besonderem Interesse nicht nur von seiner diplomatischen Herkunft, sondern auch von seinen, teils inoffiziellen, teils offiziellen, Begegnungen mit Matyas Rakosi, Alexander Dubcek und Indira Gandhi; vom Versuch des Bundeskanzlers Kiesinger, über ihn Kontakte zur DDR-Führung aufzunehmen, und von den diplomatischen Diensten, die er unter anderem durch Gartenfeste in Kleinmachnow leistete.

Als eine Art Bildungsroman erscheinen mir die ersten Kapitel der „Sonntäglichen Lebensbetrachtung“. Wie am Gymnasium die Liebe zur französischen Sprache und Kultur geweckt wurde, wie der junge Gerstner Sieger eines Redner-Wettbewerbs in der Kongreß-Bibliothek zu Washington wurde und dadurch an eine amerikanische Privatschule kam; wie er bei der Deutschen Jungenschaft mit linken Ideen vertraut wurde, 1931 in den Roten Studentenbund eintrat und warum er trotzdem 1933 Mitglied der NSDAP wurde. Geradezu abenteuerlich lesen sich Gerstners Erinnerungen daran, wie es ihm als Mitarbeiter der deutschen Botschaft im nazibesetzten Paris gelang, über seinen Freund Serge die Résistance über Pläne der deutschen Besatzer zu informieren und für bedrohte Personen Passierscheine ins unbesetzte Frankreich auszustellen. Dramatisch die Schilderung, wie Gerstners Frau Sibylle mit den Schreiben von Freunden und Kampfgefährten aus der Résistance zum sowjetischen Kommandanten vordringt, um Gerstners Befreiung aus dem Lager Hohenschönhausen zu bewirken, wo er zusammen mit Heinrich George einsaß.

Aufschlußreich sind Gerstners detailreiche Schilderungen des Wirtschaftslebens in der DDR, der Probleme und Mängel, besonders auch der Tragödie der DDR-Autoindustrie. Interessant seine Überlegungen zum 17. Juni 1953, zum XX. Parteitag der KPdSU, zum Mauerbau und zum Mangel an Demokratie und Vertrauen (der Führung zum Volk), die er als Hauptursache für das Scheitern des sozialistischen Versuches in der DDR sieht. Besonders spannend noch einmal die letzten Kapitel, in denen Gerstner das tragische Schicksal seiner Tochter Sonja schildert und den Kampf um die Veröffentlichung des darauf aufbauenden Buches Flucht in die Wolken aus der Feder seiner Frau sowie seine eigenen Bemühungen um eine „sozialistische Seelsorge“. Sich selbst sieht Gerstner gleich Jürgen Kuczynski als „linientreuen Dissidenten ..., weil wir die Hoffnung auf Reformen nicht aufgeben konnten“, und für „künftigen Sozialismus“ zieht er die Schlußfolgerung: „Selbst die vollkommenste soziale Sicherheit darf nicht zu Reglementierung und Langeweile führen.“

Gerstner bleibt der sachlich-kritische Optimist bis zum Schluß; und ich muß gestehen, daß ich selten Lebenserinnerungen mit so viel Interesse gelesen habe wie die seinen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite