Eine Rezension von Rudolf Kirchner


„Der traut sich was!“

Günter Gaus: Kein einig Vaterland

Edition Ost, Berlin 1998, 220 S.

 

„Der traut sich was!“ überschreibt Friedrich Schorlemmer seine Vorbemerkungen und hätte als Ostdeutscher in der neuen großen Bundesrepublik auch ausrufen können: „Der versteht uns!“

Tatsächlich ist man verblüfft, wenn man die hier vorliegende Sammlung von Beiträgen - zumeist in der Wochenzeitschrift „Freitag“ zwischen 1991 und 1998 publiziert - in ihrer Gesamtheit gelesen hat. Hier gibt ein sachkundiger Zeitzeuge seine Meinung zu Protokoll, ohne Rücksicht auf politische Großwetterlagen und parteipolitische Verpflichtungen, aber auch ohne Hoffnung auf eine Schlagzeile in der Tagespresse.

Natürlich erwartet man von Günter Gaus Sachlichkeit. Wer nur einige seiner Sendungen „Zur Person“ gesehen bzw. die veröffentlichten Gespräche gelesen hat, weiß, wie intensiv dieser Mann fragen kann, wenn es darum geht, einer Person die Möglichkeit zu geben, sich wirklich zu öffnen und zu erklären - und nicht nur irgendeine gewünschte Haltung zu bestätigen. Aber eine solche Offenheit im Herangehen an die Fragen der deutsch-deutschen Vereinigung, ein solches Verständnis für die innere Situation vieler Ostdeutscher ist bei einem „Alt-Bundesdeutschen“, der noch dazu einige Jahre die Bundesrepublik als Ständiger Vertreter in der DDR politisch repräsentierte, mehr als erstaunlich.

Oder vielleicht auch nicht! Denn Gaus hat bereits in seinem diplomatischen Amt alles darangesetzt, die DDR und vor allem die Menschen in der DDR genauer zu verstehen. Heute ist es beinahe spaßig, wie der ehemalige Politiker immer wieder betonen muß, daß es ihm ums Verstehen ging und geht und daß das nichts zu tun habe mit seiner Sympathie oder gar Parteinahme. Seine Fähigkeit zur Toleranz mache ihn unfähig, totalitär zu denken, gesteht Gaus im abschließenden Interview mit Daniela Dahn und nennt sich mit der ihm eigenen leichten Selbstironie „einen nichtpraktizierenden Anarchisten“. Und nachdenklich sinnt man als Leser der „Besinnungs- und Bildungsmetapher“ seines Lebens nach, die Gaus mit der Feststellung umreißt, daß man das abendländische Idol von Ikarus, der zu hoch fliegt und abstürzt, durch den Vater Dädalus ersetzen sollte, der das Fliegen erfunden hat (vgl. S. 42, 214).

Günter Gaus (1929) hat als Chefredakteuer des „Spiegel“, als Ständiger Vertreter der Bundesrepublik bei der DDR und als Westberliner Wissenschaftssenator auf den verschiedensten Gebieten des gesellschaftlichen Lebens Erfahrungen sammeln können und dabei eine Urteilsfähigkeit entwickelt, die ihn weit über den heute typischen Journalisten hinaushebt. Klarheit und auch Schärfe prägen seinen Stil, aber nie verletzende Attacke oder billige, auflagensteigernde oder die Einschaltquoten hebende Gags und Tricks. Wie er zum Beispiel über Erich Honecker schreibt („Amputation einer Biographie“, „Das Ende einer deutschen Biographie“, „Honecker. Ein Nachruf“), belegt eben diese seine Tugenden. Immer wieder macht er darauf aufmerksam, daß die DDR nicht so war, wie sie sich offiziell dargestellt hat, aber eben auch nicht so, wie sie nach der Vereinigung in der Öffentlichkeit beschrieben wird. „Nur wenn wir die DDR sehen, wie sie wirklich war, und nicht, wie es das Sensationsbedürfnis derzeit verlangt, gibt es eine winzige Chance zu einer gesellschaftlich relevanten Vergangenheitsbewältigung.“

Als eine Art Barometer des realen Zustandes der Vereinigung von Ost und West kann man die hier enthaltenen Reden und Artikel zum Tag der Einheit am 3. Oktober ansehen: Von dem ersten Redeentwurf 1991, der nicht benutzt worden ist, über eine Rede in Leipzig 1993 („Die deutsche Vereinigung im öffentlichen Bewußtsein“) bis zu einer Bilanz aus dem Jahre 1996 („Die Deutschen in ihren Grenzen“) reichen die angezeigten Werte. Und sie dokumentieren einen Zustand, den Gaus letztlich so beschreibt: „Die deutsche Vereinigung ist als gestaltete Problemlösung gescheitert. Über den geistigen Horizont eines antikommunistischen Kreuzzugs, bei dem Beutemachen zu den Freiheiten gehörte, die man mit sich führte, ist der Vereinigungsprozeß kaum je hinausgegangen.“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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