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Eva Lia Wyss

Nichts und unverbindliche Küsse - Lyrik aus der Schweiz

Gedichte von Christian Uetz und Taha Khalil 1998

 

Zwei 1998 publizierte Texte sprechen sehr deutliche Worte: Der eine erzählt von der Begegnung eines Poeten mit Nichts, der andere sieht unverbindliche Küsse. Eine kleine Auswahl zwar - doch eine reiche Ernte.

„Nichte“ - Entfaltungen des Nichts

Mit dem Titel Nichte (im Droschl Literaturverlag) legt Christian Uetz, ein Schweizer Lyriker, der bereits bei Beat Brechbühl (Verlag Im Waldgut) zwei Lyrikbände Luren (1993) und Reeden (1994) veröffentlichte, ein erstes großes Epos vor.1

Das Gedicht schreibt in fast hundert Seiten einen Weg durch das Nichts, oder besser - wie es der Titel ankündigt - durch verschiedene „Nichte“. Es führt uns sprachlich aufgebrochen und weit in verschiedene Sphären des Nichts, in wunderbare Gegenden, in die man denkend geraten kann. Der Text entfaltet sich zu einem theoretisch-phänomenologischen Epos.

Ein Auszug aus dem Anfang des Texts:

(Lalls Laffe:) Geh nie Alls Affe.
Nur wenn ich dich schaffe; nur wenn du mich schaffst;
scharftst dus Lichscht; lichsch ichs schharf.
Kann mich das ehrnden?
(Sind Gehrdichte zu shehr Vhöhghell?)
Laufe ich hinreifssend auf hirnriffssigen Lichtzerguss?
Blitzt dies kein fährreckendes Enghellszucken?
Keim sternbiges Gebähren?
Wenn du reissnen Herngstzens wiewärst wieherst:
Gehwieerr; Gehwieherr.

(Uetz, S. 11)

Jeder Text überläßt uns jeweils eine Lesart, er kann sie nicht vorgeben. Den Text erfährt man also um so offener, je stärker die morphologische Struktur - wie im vorliegenden Fall- zerbrochen oder aufgebrochen ist. Ganz sicher - so scheint es - ist hier die Sinnbestimmung, entlang von linguistischen Konventionen beispielsweise, nicht dringend. Die Richtung, die die zerbrochenen Elemente vorgeben, bleibt nun aber nicht beliebig, wie angenommen. Das Zerbrechen der Morpheme, so stellt es sich heraus, ist vielmehr die Bedingung des Verstehens. Das Zerbrechen der Morpheme wird sogar zu deren Explikation, indem in der neuen Morphe die buchstäblichen morphologisch-assoziativen (Sinn-)Strukturen vor uns und für uns entfaltet, expliziert, werden.

Das Sprachnichts oder die Multiplikation der Signifikanten

Was tun mit Wörtern wie „scharftst“, „Lichscht“, „margnetisch“, „Umghang“? Eine literaturhistorische Schublade finden (hin zu Kling, Papenfuß-Gorek, Pastior, Jandl, Thomkins, Arp) oder - fast möchte man sagen - lesen? Einmal fürs Lesen entschieden, findet sich das Uetzsche Sprach-System. Was passiert in seinen Texten? Seine Sprachfindung unterhöhlt „natürlich“ die Materialität der Sprache. Ist es wie bei den anderen? Nein, es ist nicht ein isolierendes Aufbrechen der Materialität der Sprache, keine Jonglage mit Anagramm und Palindrom, keine morphologische Verfremdung durch Anlehnung an Umgangssprache oder Dialekt. Das Sprachsystem bringt eine ganz besondere Wahrheit zu Tage, die es nun zu untersuchen gilt.

Er findet Wörter, die n i c h t s bedeuten - vielleicht. Doch sicher findet er eine Sprache, welche die Rationalität zu einer sinnlichen Erfahrung macht.

Eine Zeile aus dem Text „Nichte“ soll nun das Verfahren veranschaulichen:

Horch und tiefsehgellnder Seelspielghell

(Uetz, S. 20)

Es lesen sich, hoch und tief, horch, Tiefsee, Segel, gellen, gellend, segelnd, See, Seele, Seespiegel, Seelspiegel, Seelspiel, gell, hell, etc. Diese eine, meine Rekonstruktion ist möglich, andere noch, andere Lektüren, Varianten.

Was geschieht hier? Die Signifikanten vervielfältigen sich durch die morpho-phonologischen akkumulativen Verzerrungen der Wörter („tiefsehgellnder“). Nicht eine allgemeine und unpräzise, sondern die bewußte und kontrollierte Multiplikation der Signifikaten ist zum Erstaunen aller am Sprachmaterial gezeigt und vorgeführt. Die Lektüre des Textes erhält so eine bestimmte Richtung. Dies geschieht dadurch, daß die Sinn-Bewegung, die signifikatorische Bewegung explizit wird in der Verformung der Wörter.

Gleichzeitig erhält die phonologische Struktur des Signifikanten eine doppelte Struktur, eine zusätzliche Ebene der Bedeutung: Das Lautbild indiziert die Semantik, bleibt also nicht länger arbiträr. Die Phonologie gibt einen Wink; sie treibt den Sinn - nach einer kurzen Verwirrung vielleicht -, wenn nicht in eine klare, dann doch in eine klärende Richtung. Zwar wird die phonologische Struktur der Wörter in eine auf den ersten Blick sinnentstellende Gestalt gebracht. Doch besonders für die genaue Lektüre erfährt der Text eine sehr deutliche und bedeutungsvolle „Veredelung“: eine Wendung hin zu der in der Verformung angelegten Signifikation, eine Präzisierung. Es steht deshalb nicht länger eine unendliche Menge von Bedeutungen, assoziativen Möglichkeiten des Sinnes zur Verfügung, sondern der Text leitet an, durch eine phonlogisch-morphologische Vorformung diejenigen Assoziationen zu lesen, die auch expliziert, „ausgefaltet“ eben vor uns liegen.

Gleichzeitig ist das Zerbrechen der Morpheme ein Anverwandeln vorerst differenter Strukturen. Das Sprachspiel der Anverwandlung bietet dann eigentlich eine äußerst brauchbare und nützliche Grundlage für die Explikationen. Anverwandlung meint somit die Verschmelzung von phonologisch Ähnlichem. Ähnlichkeit gerät in den Sog des Sinns. So bildet sich auf diese Weise, von der formalen Ähnlichkeit ausgehend, eine neue, eine konzeptuelle Analogie: ein strukturell metaphorisches Prinzip.2

Sprache konstituiert sich im Text als etwas, was die Bedeutung erst zerstört, um sie dann um so präziser wieder aufzubauen. Über ein Verfahren der phonologisch-morphologischen Destruktion wird der Text in der Lektüre „wiedergeboren“. Die Leserin, der Leser entdeckt dadurch im Text neue assoziative Möglichkeiten.

„Nichte“ - Gegenden des Nichts

Eine Antwort auf den ungewöhnlichen Plural des Titels findet man nicht gleich im ersten Kapitel des Textes. Der Titel bleibt eine Weile lang kryptisch, um sich dann mit fortschreitender Lektüre nach und nach zu verdeutlichen.

Mit einer starken Zäsur empfängt am Anfang des Textes folgendes Motto: „Wärst du, du wärst nicht.“ Es bemerkt die dialektische Natur jeglicher Existenz, stellt diese ambivalente Beziehung gleich in den Vordergrund. Die Zäsur betont das Hin und Her zwischen Sein und Nichtsein, unsicher läßt der Konjunktivus die Äußerung zurück. Der Irrealis betont die Fiktionalität.

Welches Du ist denn nun angesprochen? Das Gegenüber, der Mensch, das Angesicht?

Ein weiterer, ein scheinbar paradoxer Leitspruch in Klammern folgt dem Motto: (Ein Nicht ist nicht.)

Darauf folgen sechs Abschnitte. Der Weg durch „Nichte“, der hier skizziert werden soll, geht durch Normen, Nornen, Nosten, Nomen, Nomoi hin zum Nicht.

In N o r m e n (mit dem Motto „Mundterre [Moonterre]“ S. 9) stellt der Text die Frage nach der Poetologie. Dies betrifft Normen für die Texte, dann auch Normen für den Dichter. Der Text fragt jedoch ebenso nach den Regeln des Schreibens, den Regeln des Gedichts, nach den Konventionen der Lyrik.

Am Anfang steht die Untersuchung und der Kritik an der ambivalenten Pose des Dichters „Geh nie Alls Affe... Gehwieerr; Gehwieherr.“ (S. 11 und s.o.) Daraufhin folgt die Beschreibung der Ruhe „vor dem Sturm“, das Warten auf das Einbrechen des Gedichts in den Körper des Dichters. Die Plötzlichkeit, in der das Gedicht dann eintritt, wie es in ihm erscheint, beschreibt er so: „Wie Lux styxst du mir auf.“ (S. 13ff.) Doch dieses Erscheinen wird nun auch als ein Drängen erfahren, als störende, stechende, zischende Anteile (vorerst des Nichts) im Körper des Schriftstellers. Auch die „Narrngst vor Beleutungslosigkeit ist doch schon Beläutungslosigkeit.“ (S. 13) ist sehr bald schon da. Das Ringen um den Text wird schließlich zu einem Begehren des Textes, i n  E r s c h e i n u n g  z u  t r e t e n, sich aus dem Nichts heraus im Dichter-Körper einzufinden. Der Text, das Finden des Textes wird erlebbar in der körperhaften Differenz aus dem Nichts in ein Etwas. Die Erscheinung des Lebendigen im Körper: So ist Dichten körperliches Erleben, sinnliche Erfahrung.

Die Schicksalsgöttinnen, die N o r n e n, sind Thema des zweiten und schließen unmittelbar an das Ende des ersten Kapitels an. Schreiben wird motivisch verknüpft mit der Leidenschaft und damit auch mit dem Streben nach Erfüllung im Begehren. Nicht so sehr die rationale Weisheit, es ist vielmehr die Weisheit des Körpers, die sinnliche Weisheit, die Weisheit der Wahrnehmung mit allen Sinnen, welche die Sucht oder die Sehnsucht (das Leiden) ins Gedicht tragen.

Die Spannung wird zu einer erotischen, sie liegt in der Abwesenheit der Verfügbarkeit des Begehrten beziehungsweise der Begehrten, der Frau, der Göttin. Schreiben und Lust sind vergleichbar, das Einssein im Schreiben ist die gefährliche, tötende „lechzsühntliche Tolldtallität.“ (S. 28) Das Begehren-Schreiben ist „Aller Artem Vwortbereitung auf den grossen mosschen menschen Nakt.“ (S. 29) Der Schaffensprozeß wird Liebesakt und auch deshalb in seiner Körperlichkeit vorgeführt „...tun turmt den Murmd. Die Nüstern flügeln, die Lullst blüt.“ (S. 30)

„Ohne Handarbeit gehts nicht, ohne Mummdharbeint, mit phiel Zung.“ (S. 31) Der Höhepunkt kommt schnell „Heiliger Bin Bann. Jetz taffs du stehn. Das Bet ist voll.“ (S. 33)

In N o s t e n wird im Motto die Relevanz des Textes thematisch. Es geht um die Existenzberechtigung, hier in philosophischer Manier in der Form einer Letztbegründung. Eine Antwort findet sich im Begehren. Da liegt auch die Antwort auf die Fragen: Wie wird aus dem Nichts Etwas, wie füllt sich das Leere?

Doch nun zur Frage, woher kommt dieses, was meinen Körper erfüllt?

Das Woher der Schaffenskraft ist in Nosten nun im noch lebendigen und nahen „Aethnah“ angedeutet (S. 43). In dieser Metapher verbinden sich die Italiensehnsucht und das Motiv des eruptiven Herausbrechens der Sprache aus dem „Genius“. Beide Bilder versuchen die Schreibmotivation und den Ursprung des Schreibenwollens zu fassen: Einmal ist es eine Sehnsucht nach einem traditionsreichen und idyllischen Ort, dann aber fußt es auf der organisch-lebendigen Natur der Dichtung - sie bricht in einem durch, spuckt sich vulkanisch aus dem Körper heraus. Die Sehnsucht trifft hier in vielerlei Gestalt auf das Ich, das Ged-Ich-t. Letztlich prägt sich alles, sie liegt in Leben und Tod „und daphon leb ich, davhohn ich sterb“ (S. 45). Die Verzweiflung wird aber doch äußerst groß, in dem Moment, als das Gedicht bislang bloß halb geboren ist und durchaus noch der „Zungkunft; Anggelkunfst“ (S. 47) bedarf. Die Gewalt, die in dieser „Beshelligung“ (S. 48) liegt, bringt nun aber den entgegengesetzten Wunsch, den Wunsch nach Einsamkeit, mit sich, den Wunsch gar, endgültig zu Verstummen. Eine andere Kraft besiegt - wie es scheint - vorerst den Körper, ein Innehalten. Doch im Moment des Widerstands, als er sich dem Willen zum Gedicht nicht beugen will, stellen sich Zweifel ein: „Ader ich wil ja dies Spasnungen“ (S. 52). Hier spricht das Gegenüber, die andere Seite gibt nach. Selbst wenn es ein Wahn sein sollte, selbst wenn es zum Scheitern verurteilt ist, es scheint sich zu lohnen.

Denn schließlich findet sich ein Trost. Ab und an kann ein Erfolg verzeichnet werden:

„...aber zu weilen wassert sich einige Wort zu Wein, und macht trunkener und wacher noch als irr.“ (S. 57)

Da liegt der Lohn.

Im vierten Teil, N o m e n, wird das Verhältnis des Dichters, des Gedichts zu den auctoritas untersucht; es stehen da Trakl, Hölderlin, Arp (S. 63), dann der „Könixkran“ Celan. (S. 65) Die Namen sind hier Götter, Vorbilder, auch Zitate.

Einige werden genannt, Eckhart, Nietzsche, Hegel, Heidegger, Goethe, Joyce, Dante, Kant, Kling, Klee, Aebli, Vergil. Anklingen tun sehr viele, bekannte oder weniger bekannte, Papenfuss-Gorek - oder Jandl, mancher Dadaist - und stets denkt man an den tiefen und religiösen Hugo Ball.

Das Ende präfigurierend, wird nun die „Finsterre“ (S. 79), die Dunkelheit, das Ende der Welt, als Motto den N o m o i vorausgeschickt. Das göttliche Gesetz, die philosophische Sehnsucht als Kippfigur: „Du, mein Mass, dass du bist, dass du, mein Mass, nicht bist:...“ Die Ambivalenz in der Affirmation und Negation markiert dieser Erste Text, der von der Etablierung von Ordnung spricht, die als Bedingung jeglichen Lebens als Vorschrift das Leben gleich wieder auslöscht. Die Ambivalenz etabliert sich ebenso zwischen Form und Inhalt: Formal lehnt der erste Vers an das christliche Vaterunser an, inhaltlich und beinahe wörtlich ist Protagoras zitiert: Der Mensch ist das Maß aller Dinge, derjenigen die sind, daß sie sind...3 Somit verschmelzen in den Nomoi nun also Religion und Philosophie. Das Brauchtum, die Traditionen, seine Geschichte liegt vor ihm und bildet die Grundlage für den Text, ist das Gesetz des Textes selbst. Zwar ist aber der Wunsch, sich dessen zu entledigen, stark. „Entschlackung auch vom abgelebbckten Beziehundsdreck“ (S. 83). Doch es scheint nicht einlösbar, außer in der Fortsetzung der Nomoi. Dabei sieht sich das Dichter-Ich als ein gottähnlicher Schöpfer , „mein Will gehrsehre“ (S. 89).

Dennoch wäre es dumm, würde es an seine Macht glauben, ist der Mensch doch ein Nichts, „eine Nichtbeziehlung, ein Nichtglüsck, ein Nichtgelinnen. Das nisst spurne Negnachcktivität.“ Damit bricht der existenzgebende Augenblick durch, und im nächsten Augenblick ist alles Sein, kein „Vorher und kein Nachher, kein Nochnicht und kein Nichtmehr, es birst alles in diesem einen einzigen Undsoweiter“.

Die Phänomenologie des N i c h t ist seine Allgegenwart:

Wie Musik, wie Zeilt,
wie Nicht.

Un, nein, nicht
allgegenwärtig auch in bejahenden Säftzen.

Schmetterlinge sirrnn flatterndes Nicht;
ebensoschnellvergängliche Rosen und Regenbögen
zum Beispiel Hauch.

Schatten Schaum Schimmer
Flocke Flaum Flimmer
Nacht Traum Nimmer
Schlaf Ohn Tod usw.

Abgeschiedenheit Abwesenheit Aufgehobenheit usw.

(S. 95)

Es mischen sich allerdings viele Arten des Nicht, man möchte geradezu sagen eine bunte Mischung von Nicht(en). Es ist da Musik, mit fehlender Semantik und viel Sinn, die Zeit, die stets nicht mehr da ist, schon vergangen, und dennoch existieren wir in ihr und sie durch uns. Jede Äußerung, jeder Satz ist dann ebensosehr gleichzeitig Affirmation und Negation. Der Schmetterlinge Leichtigkeit und Abwesenheit ist eine Form von Nicht, so wie die Rose und der Regenbogen es sind durch ihre sanfte Vergänglichkeit. Und der Hauch, ein Dagewesenes im Gewesenen, ein Nicht.

Schließlich gibt es ein Fazit in 7 Schritten, hin zum Nicht. Das Nicht wird angezoomt. „(7 Mondmente zoom Nicht)“ S. 97f.) Da liegt im Schreiben die Bedingung und Grundlage für die menschlich-dichterische Existenz, einer Existenz, die sich in der dialektischen Bewegung von Sein und Nichtsein etabliert.

Wo ist aber der Ort, wo alles anfängt, wo alles angefangen hat? Es gibt nicht Trost: Wer nach Wahrheit sucht und Ordnung setzt, Eindeutigkeit und Distinktion, der findet schließlich nicht. In der Eindeutigkeit liegt schon immer die falsche Zuordnung. Eine Krux, die den Weg in die Ambivalenz weist. Die Ambivalenz nun aber verwirrt, ist unbefriedigend, bietet keinen akzeptablen oder gar gültigen Ausweg. Der Ausweg und damit die Wahrheit liegt im Schreiben selbst, „...dass mein Schreim viel realer als alle Rearität; und von Phan-tasmischem so orgasmischen, dass mein Orginalität viel orkaner als alle Organität; aber gerade genau das Nicht als Traum nicht gerade genau der Ausdruck des Nicht noch nicht Zains, sondern Träumens.“ (S. 98)

Im Schreiben selbst, in der Hingabe an den Text, der Entkörperlichung, des Eins-Seins mit dem Schreiben liegt die Wahrheit der dichterischen Existenz. Gleich einer meditativen Praxis erfährt man das doppelte Aufgehoben-Sein im Sein und im Nichts. Erst hier findet der Körper Ruhe in der Ambivalenz, eine Heimat, einen Ort. Dieses Hier ist zwar Ort, es ist aber vielmehr auch Zeit, ein Erleben, eine Praxis.

In Nichte ist eine Poetik der Ambivalenz nicht bloß dargestellt und gezeigt, sondern Schritt für Schritt vorgeführt. Der Text wird zu einer Verkörperlichung der Poetik, in der er dialogisch mit verschiedenen Körper-Stimmen das Nichts nacherlebt.4 Die Suche nach der Existenz und damit nach der Wahrheit wird zu einem Prozeß hin zum Aufgehobensein.5 Die Sprache, die sich dadurch ergeben muß, ist eine Sprache der Verrückung, eine Sprache, die das Pathos dieses Unterfangens leicht werden lässt. 6

„Eine andere Sehnsucht“ - Gefühle in der Diaspora

An einem Ort in der Ferne, beispielsweise in der Schweiz, sehnt sich ein Ich nach dem Ort seiner Herkunft, nach seiner Heimat. Dies äußert sich hier im Text von Taha Khalil in einer vielleicht etwas ungewöhnlich detaillierten Bestandsaufnahme. Es entsteht eine Form des großen Kleinen. Vor uns liegt ausgebreitet eine immense Sehnsucht, eine Sehnsucht nach den vielen tausend Dingen, kleinen Momenten und unscheinbaren Erlebnissen. Gerade diese Alltäglichkeiten, normalerweise Nichtigkeiten, die in der Geborgenheit nie auffallen, sind es, die Sehnsucht auslösen.

Ich sehne mich nach einer errötenden Wange,
nach einem Auge, das glänzt wie ein Fenster, mit dem ein leichter Wind spielt,
nach einem Kopf der sich schnell senkt,
nach einem Fuß, der trotz langsamem Schritt verlegen strauchelt.

[...]
Ich sehne mich nach Freunden, die mich ohne Verabredung besuchen.
Zum Beispiel mein Nachbar, der Friseur, der mich morgens um sechs weckt
und mich fragt: „Was machst du, Mann?“
[...]
Ich sehne mich nach den Lügengeschichten der Besucher und
nach der Langeweile, die sie auf mein Bücherregal,
auf meinen Tisch und in meine Seele streuen.
[...]
Ich sehne mich nach den Streitereien der Beduinen am Viehmarkt von Alwa.
Sie fuchteln mit ihren Dolchen, ihren Stöcken und ihren Pistolen.
[...]
Ich sehne mich nach der Angst vor den weissen, langen Autos der Nacht,
nach dem Zug, der mit sechs Stunden Verspätung ankommt.
[...]
Ich sehne mich nach dem Frühstück, nach dem Mittagessen,
nach dem Abendessen, die alle gleich aussehen,
nach den Zigaretten, die man den Besuchern anbietet,
wie man sich hier, in der Schweiz zum Beispiel,
Küsse und eilige Rosen anbietet.
[...]
Ich sehne mich danach, mich aus der Ferne nach diesem Land zu sehnen.
[...]
(S. 93f., Übersetzung von Burgi Roos)

Der Text malt ein Bild der Sehnsucht in vielen minimalistischen Impressionen, der Autor ist der syrische Kurde Taha Khalil.7

Im Gedanken an dieses scheinbar Verlorene wird die Sehnsucht zu einem schmerzhaften Gefühl, durch die Erinnerung nun entsteht wiederum Heimat, eine erinnerte.

Die Frau als Chiffre des Selbst

Heimat ist nun also die errötende Wange einer Frau, ihr gesenkter Kopf, ihr verlegenes Stolpern. Es sind einerseits Erlebnisse mit Menschen, die vermißt werden. Gerade diejenigen Begegnungen des Alltags, die das Ich in dieser Form im Moment nicht hat und - hier schmerzt es besonders - nicht haben kann.

Das Moment der Einsamkeit verbindet sich zusätzlich nun mit der einer Erfahrung von Fremdheit, die besonders in den Begegnungen mit Frauen erlebt wird. Wie ein roter Faden zieht sich die Thematik der Begegnungen mit Frauen. Die Frau wird Chiffre für die Sehnsucht.

In die Erinnerung ist ebenso die Sehnsucht nach dem Anderen eingeschrieben. Die Frau als vertrautes Gegenüber ist so nicht nur das Andere gemeinhin, sondern in der Situation der Fremdheit ebensosehr Anfang und Grund der Sehnsucht. Der Mann, verliert er die Frau als vertrautes Gegenüber, hört auf, sich als Mann zu erfahren. So spiegelt er sich in den Begegnungen mit den Frauen in der Fremde nicht mehr als sich selbst vertrauter Mensch. Die bekannten Dimensionen seiner Identität fehlen ihm, kommen ihm im Exil abhanden. Das Grundlegende bleibt ihm versagt. Er kennt sich selber nicht, er kennt sich nicht mehr. Dieser Verlust erzeugt die Sehnsucht nach den vertrauten Gesten und Blicken. Die Sehnsucht wird somit eine Sehnsucht nach sich selbst. Eine Sehnsucht, sich selber als Vertrauten zu erfahren.

Die Rekonstruktion des Alltags

Das Gedicht läßt die Gedanken eines Menschen im Exil daherströmen, eines Menschen, dem das fehlt, was ihm nah ist, was ihm vertraut ist, weil er in der Schweiz, im Ausland, leben muß. „Eine andere Sehnsucht“ führt jedoch das Fehlende herbei. Der Text eignet sich sprachlich dasjenige an, was sich im gegenwärtigen Alltag gerade nicht ereignen kann. Allerdings gibt diese Sehnsucht nach den kleinen Dingen der Leserin, des Lesers einen Einblick in einen unbekannten Alltag.8 Die Beschreibung der Sehnsucht nach dem vertrauten Alltag, mag er auch noch so unfreundlich, ja gar gefährlich und feindlich gewesen sein, führt die Erinnerung in die Sprache. Damit rekonstruiert sich durch diese Fragmente eine Heimat. Die erinnerten Erfahrungen erhalten eine neue Dimension.

Nachempfindbar ist die Sehnsucht nach spontanen Besuchen von Freunden, nach den Hochzeitsfesten, auch nach den Lügengeschichten der Besucher, nach der täglichen Fahrt in ein Dorf, der kurdische Tonfall der Imame, die Streitereien der Beduinen, weniger erfreulich die Sehnsucht nach der Angst vor den Autos des Sicherheitsdienstes. Besonders deutlich wird hier, wie wenig wählerisch die Sehnsucht ist. In der ausweglosen Situation gerade kann eine Begierde sogar nach Unannehmlichkeiten, Lästigkeiten und nach einer vertrauten Angst entstehen.

Selbst wenn er nicht eigentlich von den Belanglosigkeiten des Alltags schreiben möchte, muß er sie doch ins Zentrum stellen. Eigentlich aber wäre er gerne ein „freier“, „stolzer“ Dichter. Einer, der ohne Qual einen Hymnus auf sein Land, ein Gedicht von den schönsten Gazellen beispielsweise, schreiben könnte.

Doch die Sehnsucht ist nicht nur nicht wählerisch, sonder läßt einem auch keine Wahl. Sie erfüllt mit eigenartigen Verlangen, beispielsweise nach dem Zug mit seiner Verspätung, nach der Neugierde der Nachbarinnen, nach dem immergleichen Essen, nach den Freunden, die ihre Heirat schon nach sechs Monaten bereuen (die dann Gedichte schreiben oder sich umbringen).

Nach der Sehnsucht nach Menschen, nach Begebenheiten, nach Gefühlen folgt schließlich die Sehnsucht nach der Sehnsucht. An dieser Stelle weist der Text in die Herkunfts-Richtung. Die Sehnsucht zeigt rückwärts, nach hinten, richtet sich in die Vergangenheit, zurück. „Ich sehne mich danach, mich aus der Ferne nach diesem Land zu sehnen.“ Da scheint auch die Paradoxie der Existenz im Exil auf. Es ist ein gleichzeitiges Vor und Zurück, eine Blockade letztlich, die der rückwärts gerichtete Blick im vorwärtsschreitenden Text auslöst. Doch begreift sich an diesem Punkt erst die Sehnsucht selbst - von den Dingen, Menschen, Gefühlen, kommt man zur Sehnsucht an sich, ergriffen von ihr, begreift man sie.

Schweizer Lyrik?

Es mutet immer etwas unheimlich an, sich über Schweizer Literatur im allgemeinen oder gar über Schweizer Lyrik zu äußern. Literatur und dann sogar Lyrik mit dem Attribut des Schweizerischen zu versehen scheint nicht nur schwierig, sondern auch unangebracht. Häufig ist die konkrete Konstruktion „Schweizer Literatur“ mit dem Dilemma verbunden, nicht mit einem einheitlichen Kriterium gebildet zu sein: Wählt man den Wohnort oder lieber den Arbeitsort der AutorInnen? Ist der Paß ausschlaggebend? Sollte die Schreib-Sprache eine der Schweizer Landessprachen sein? Oder fragt man nach dem je persönlichen Gefühl der Zugehörigkeit zu einem Land, zu einer Region (des Landes)?9 Ein weiteres Problem stellt sodann die dadurch notwendige Ausgliederung der Schweizer Literatur aus den Literaturen der Nachbarländer dar. Schweizer Literatur kann in französischer, italienischer, deutscher Sprache und einem rätoromanischen Idiom geschrieben sein, ist wohl kaum isoliert zu betrachten. Die Literatur bezieht sich aber doch in den meisten Fällen ebenso auf die Literaturen Frankreichs, Deutschlands, Österreichs, Italiens, etc.10 Hier wird vielmehr deutlich, wie Geographie bzw. Staatspolitik der Literaturwissenschaft scheinbar Grenzen aufdrängen, die dann letztlich auch uninteressant sein können.

Die Zuschreibung macht zwar dort Sinn, wo sie einem Wunsch nach literarhistorischen Erkenntnissen entspringt. Doch ist sie bislang weitaus öfter zu eng verknüpft mit dem Bedürfnis nach einer Vereinnahmung und Ideologisierung von Kulturgütern. Aus diesen Gründen mißlingen derartige Versuche meist: Sie bleiben mit einer gewissen Regel-mäßigkeit Aufzählungen oder sind mit uninteressanten ideologischen Systemen verbunden.11

Gerade die Publikation „fremdsprachiger Schweizer Literatur“ des Limmatverlags mit dem Band Küsse und eilige Rosen hingegen irritierte und erfreute in diesem Zusammenhang. Einerseits ist die Öffnung des Begriffs der „Schweizer Literatur“ in diesem Band durchaus erfrischend, andererseits wird durch diese Ausweitung auch angedeutet, daß er obsolet sein könnte. Gewissermaßen restauriert, kam er in einer unheimlichen Allianz auf der Frankfurter Buchmesse 1998 zum Tragen mit dem Zwecke der Schweizer Selbst-Darstellung. Gerade dort wurde die sog. kulturelle Vielfalt als Schweizer Eigenart gefeiert. Und dennoch wissen alle ganz genau, wie sehr die Schweiz die sog. kulturelle Vielfalt mit vielen, vielen Ländern teilt.12

Literatur

Christian Uetz. Nichte. Droschl Verlag, Graz Wien. 1998.

Christian Uetz. Nichte und andere Gedichte. Droschl Verlag, Graz Wien. 1999. Buch-CD.

Taha Khalil. Eine andere Sehnsucht. Deutsch von Burgi Roos in: Küsse und eilige Rosen. Die fremdsprachige Schweizer Literatur. Ein Lesebuch. Hg. von Chudi Bürgi, Anita Müller u. Christine Tresch. Limmat Verlag, Zürich 1998, S. 93-96. Arabisch (original) in: al-Quds al-’arabî, Volume 6 - Issue 1569, Tuesday 7 June 1994.

Christian Uetz. Nicht. In: Das Netz-Lesebuch. Netz-Press, Berlin 1998. S. 110-115.

Peter von Matt. Die verdächtige Pracht. Über Dichter und Gedichte. Hanser Verlag, München 1998.

Schläpfer, Robert, ed. (1982): Die viersprachige Schweiz. Benziger Verlag, Zürich 1982.

Schwarzenbach, Rudolf. Die Stellung der Mundart in der deutschsprachigen Schweiz. Studien zum Sprachgebrauch der Gegenwart. Verlag Huber, Frauenfeld 1969.

Geschichte der deutschsprachigen Schweizer Literatur im 20. Jahrhundert. Hg. von Klaus Pezold und Hannelore Prosche. Verlag Volk und Wissen, Berlin.

Literatur in der Schweiz. Sonderband der Zeitschrift TEXT + KRITIK. Zeitschrift für Literatur. Hg. von Heinz Ludwig Arnold. 1998.

Platon: Theaitetos. In: Werke in 8 Bänden; griechisch und deutsch. Hg. von Gunter Eigler. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1990. Bd. 6.

Anmerkungen

1 Christian Uetz. Nichte. Droschl Verlag, Graz und Wien 1998.

2 Im mündlichen Rezitieren der Texte lässt Uetz die Wörter kippen, ja geradezu umfallen. Besonders im Vortrag kann er sein Verfahren vorführen. Hier geschieht es, daß die Andeutungen der schriftlichen Version tatsächlich phonetisch expliziert werden.

3 Platon: Theaitetos 170d.

4 Die schriftliche Fassung Uetzens Texte ist hier viel stärker von der vorgetragenen oder gar vorgelebten Fassung zu unterscheiden. Der Autor Uetz besitzt seine Texte und ist von ihnen besessen. Er kann sie in- und auswendig. Singt seinen Text vor, oder er schreit ihn vor. Wiederholt Zeilen, wenn es ihm beliebt, wenn es stimmt, der schriftliche Text ist eine Aufschreibfassung, nicht aber das Gedicht. Doch es bleibt hier nichts anderes, als auf diese die Ausführungen zu beziehen. (Vgl. Uetz 1999, Buch-CD.)

5 Von der Faszination und dem Entdecken des Nichts hin bis zur Lebenswelt Nichts kann Uetz in eine lange Tradition der Suche nach der Nicht-Struktur, dem Nicht-Sinn, der Nicht-Farbe, dem Nicht-Bild, dem Nicht-Ton dieses Jahrhunderts eingeordnet werden.

6 Vgl. auch Uetzens Poetologische Überlegungen in: Christian Uetz. Nicht. In: Das Netz-Lesebuch. Netz-Press. Berlin 1998. S. 110-115

7 Taha Khalil. Eine andere Sehnsucht. Deutsch von Burgi Roos in: Küsse und eilige Rosen. Die fremdsprachige Schweizer Literatur. Ein Lesebuch. Hrsg. von Chudi Bürgi, Anita Müller u. Christine Tresch. Limmat Verlag, Zürich 1998, S. 93-96. Arabisch (original) in: al-Quds al-’arabî, Volume 6 - Issue 1569, Tuesday 7 June 1994.

8 Hier fragt sich, ob zu der Übersetzung nicht ein Kommentar äußerst hilfreich wäre.

9 Während der Diskussion auf dem Kongreß zeigte sich deutlich, dass einige Literaturhistoriker die beiden Autorinnen Agota Kristof und Erica Pedretti zum Erstaunen vieler äußerst vehement nicht als Schweizer Autorinnen auffassen. Das einzig opportune Kriterium ist jedoch nicht die Literaturwissenschaft in der Schweiz oder in anderen Ländern, sondern allein eine diesbezügliche explizite Deklarierung des Autors, der Autorin.

10 Die einschlägigen Werke zu den Landessprachen einerseits Schläpfer, Robert (Hrsg.) Die viersprachige Schweiz. Zürich 1982. - und zum Verhältnis von Mundart und Schriftsprache andererseits: Schwarzenbach, Rudolf. Die Stellung der Mundart in der deutschsprachigen Schweiz. Studien zum Sprachgebrauch der Gegenwart. Frauenfeld 1969.

11 Eine der wenigen gewinnbringenden Publikationen ist die Geschichte der deutschsprachigen Schweizer Literatur im 20. Jahrhundert. Hrsg. von Klaus Pezold und Hannelore Prosche. Weniger gelungen leider der Versuch der Zeitschrift Text + Kritik im letzten Jahr (1998).

12 Wenn mit der sog. kulturellen Vielfalt aber eine Toleranz gegenüber ethnischen Minderheiten gemeint sein sollte, so wäre sie für die Schweiz, wie auch für viele andere Staaten, wohl eher unangebracht.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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